Tätowierte Sterneköche: Saucool

4Experiment
4Experiment(c) beigestellt
  • Drucken

Menüs mit Auerochs und glücklicher Sau: Die tätowierten Sterneköche vom 4Experiment Gastraum
in Hamburg machen wildes Essen aus bodenständigen
Produkten.

Das Leben brodelt hier. Kellner und Köche düsen durch den Gastraum mit grünen, ­roten und weißen Wänden sowie grellroten Lampenschirmen, im Eingangsbereich ­grinst auf dem Boden ein Totenkopf, in einer Nische thront ein goldener Buddha. Sphärischer Sound lullt die bunte Schar ein. Früher rockten sogar Livebands, leider hatten die Nachbarn und die Polizei etwas dagegen. In die Küche sieht man durch ein längliches Bullauge in einer violetten Wand. Nina Hagen würde man in so einem Ambiente vermuten, Quotenregelung hat sich aber in dieser Männertruppe wohl noch nicht durchgesprochen.

Auch „ER“ war da. Eckart Witzigmann. „Großartig“, streute er Rosen. Ein durchaus kurioses Treffen, als ob sich Mozart mit AC/DC auf ein Bier zusammenhockt. Stell dir vor: Auf der einen Seite der honorige Godfather der Köche, ihm gegenüber die Rocking Cooks von 4Experiment, die gängige Vorstellungen von Spitzenköchen gründlich erschüttern. Lange Haare, Ziegenbärte, Tätowierungen, Kapuzenjacken, T-Shirts mit Totenköpfen, Popey oder einem Oktopus drauf – das ist der Look der Gastraum-Crew.

Auch wenn man es ihnen nicht ansieht, sie haben strengen Sternedrill hinter sich. Raik Holst holte sich die Tiefenschärfe bei den Witzigmann-Schülern Jörg Sackmann und Michael Hoffmann, auch Dreisterne-Abonnent Dieter Müller steht auf seiner Liste. Thorsten Schmidt schwitzte gemeinsam mit Raik bei Hoffmann, Jürgen Zimmerstädt werkte bei Bobby Bräuer und Hans Haas, Nils Lauckner bei Jörg Müller, Peter Ruepell machte im „Le petit Nice“ seinen Abschluss in Bouillabaisse und härtete sich in Kopenhagen im „Noma“ gut gegen Nordwind ab. Warum die vier Experimentellen, die eigentlich bereits fünf sind, auf Jung-68er machen? Weil sie keine Lust mehr auf ein Dasein im Keller, auf Hierarchien und weiße Zwangsjacken hatten.

Schwein mal fünf. Die Philosophie ist einfach: Der Gast-raum ist ein Kochexperiment und funktioniert wie eine Band. Das Restaurant nützen diese Köche dabei als ihre Bühne. Man sieht, welche Produkte da sind, dann entwirft und kocht jeder eigenständig sein Gericht, täglich neu. Heute gibt es Schwein? Okay, die einzelnen Teile werden aufgeteilt. Nils brutzelt Schweinsrücken mit Schokolade oder Schweinsbacke mit Berglinsenvinaigrette, Jürgen
kreiert burmesischen Schweinefleischsalat, Raik Schweinsbauch mit Pulpo und Thorsten Schweinsbratwurst.

So weit, so anders. Natürlich ist Reibung bei so vielen Solisten vorprogrammiert. „Ja, das gehört dazu“, sagt Raik offen, „man muss auch mal streiten, aber so ent­wickelt man sich weiter. Und nach dem Abendgeschäft umarmen wir uns wieder und gehen mit einer MengeEnergie nach Hause.“ In der Küche herrscht das Treiben eines pulsierenden Basars. Alle sind überall, es zischt, Dämpfe wabern aus alten Eisenpfannen, flinke Hände ziehen gerade eine Rein mit Ziegenbraten aus dem Ofen und ein Messer zerteilt noch schnell ein Büschel Peter­silie. Ein fröhliches Chaos, das doch – irgendwie – zu einem sinnvollen Ganzen führt. Das Publikum fügt sich lustvoll in das Geschehen ein. Vom Banker bis zum Punker.

Für Schicki-Schnickschnack haben die Burschen nichts übrig: Nix Tischtücher, nix Speisekarte, stattdessen werden die Gerichte auf eine schwarze Schiefertafel gekritzelt. Eis wird auf Steinen präsentiert, Teller und Besteck sehen fast bei jedem Gast anders aus. „Je nachdem, was wir auf den Flohmärkten finden. Jedes Stück erzählt ­seine eigene Geschichte“, erklärt Torsten Schmidt. Was man beim Equipment spart, wird in die Produkte gesteckt. ­„Essen fängt nicht erst im Ofen an, sondern schon im Stall“, philosophiert Raik.

„Fuck convenience food!“, fordern die experimentellen Herren. Nahezu alles, was den Weg in die Pfannen findet, wird biologisch von engagierten Produktfetischisten erzeugt: Auerochsen, Ziegen, Hochlandrinder, Heidschnucken, Butter, Topfen, Milch, Käse. Die Hofsäue dürfen nach schweinischer Lust und Liebe im Schlamm wühlen und Brot, Kastanien und ­Eicheln schlemmen. Geschlachtet werden die Tiere ganz stresslos auf dem Hof. Das wird in Filmbeiträgen auf der Homepage ohne Filter gezeigt, auch das Ausbluten und die Verarbeitung der Tiere. Sieht vielleicht nicht sau­cool aus, aber die Sau ist cool, weil sie ganz natürlich aufgewachsen ist und so gut schmeckt. „Wir wollen das Bewusstsein schärfen, die Achtung vor dem Tier erhöhen“, meint Jürgen Zimmerstädt. „Die meisten Leute glauben ja, das Fleisch kommt schon als vakuumiertes Filet auf die Welt.“

Keine Stresshormone. Übrigens, sollte der durchaus wahrscheinliche Fall auftreten, dass ein Auerochse auf Ihrer Kühlerhaube landet, sollten Sie zwei Fakten bedenken: Das Tier erlitt einen schnellen, stressfreien Tod – Ihr Auto allerdings auch –, und Sie haben bereits die Grundzutat für einen 4Experiment-Kochkurs, 24 Stunden ­live auf der Homepage der Rockköche. Nach dem Motto „Kill your TV“ erfährt man in knackigen Kochvideos, wie man das Urviech ideal zubereitet. Am besten, man macht gleich parallel zum Onlinebrutzeln mit. Im Restaurant ist der Auerochse auch des Öfteren anzutreffen. Erfahren die Gäste, dass der Bursche auf der Weide geschossen wird, sind sie aber erst einmal geschockt: „Der Arme!“ Die Einsicht siegt schließlich, das ist doch besser, als in den Schlachthof gezerrt zu werden.  Keine Stresshormone im Côte de Bœuf. Damit sich der Ochse als Exote nicht gar so allein fühlt, reifen bereits neue Pläne im 4Experiment Gastraum. Ein Lieferant will nun beginnen, Kobe-Rinder zu züchten. Zur schonenden Aufzucht werden sie täglich mit Sake massiert, das Kilo kostet dann nur rund 600 Euro . . .

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.