Nigeria: Keiner zählt die Toten

A man walks past a portrait of Nigeria´s President Jonathan, who began his campaign on Wednesday for a second-term in office in Lagos
A man walks past a portrait of Nigeria´s President Jonathan, who began his campaign on Wednesday for a second-term in office in Lagos(c) REUTERS (AKINTUNDE AKINLEYE)
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Die Opferzahlen für die Boko-Haram-Angriffe auf Baga schwanken zwischen 150 und 2000. Die Wahrheit könnte verborgen bleiben.

Wien/Abuja. 150 Tote – oder doch 2000? Noch immer ist nicht klar, wie viele Menschen bei den Angriffen der Islamistengruppe Boko Haram auf die Stadt Baga und Umgebung im Norden Nigerias vergangene Woche ums Leben gekommen sind. 150 – das ist die Schätzung, welche die nigerianische Regierung nach Tagen des Schweigens am Montag veröffentlicht hat. Über bis zu 2000 Opfer hat zuvor die BBC berichtet, unter Berufung auf Augenzeugen und lokale Funktionäre. Unter dem Titel „Warum es so schwer ist, in Nigeria die Wahrheit zu erfahren“ schilderte der britische Sender die Schwierigkeiten, vor Ort über Boko Haram zu berichten.

Direkte Kontakte in die betroffenen Gegenden sind schwierig. In Baga gebe es seit Langem keine Mobilfunkverbindung, da die Fanatikergruppe Funkmasten zerstört habe, schreibt die BBC. Trotzdem erfahren Journalisten von Angriffen oft zuerst über die sozialen Medien. Im Fall einer ersten Attacke auf die Stadt und eine benachbarte Militärbasis etwa durch zwei kurze Sätze: „Attacke auf Baga. Lautes Gewehrfeuer zu hören.“ Von den Behörden kam zunächst einmal – nichts.

„Hinterhältige Attacke“ in Paris

Die nigerianische Regierung ist dafür bekannt, Opferzahlen von Angriffen der Jihadisten möglichst niedrig anzusetzen oder gar herunterzuspielen, um die Gruppe nicht zu stark erscheinen zu lassen. Jetzt, in Wahlkampfzeiten, sowieso: Präsident Goodluck Jonathan will am 14.Februar wiedergewählt werden und steht ohnehin in der Kritik für sein Scheitern, der Boko Haram etwas entgegenzusetzen. Bis Mittwoch äußerte er sich dann auch mit keinem Wort zu den Angriffen auf Baga – dafür verurteilte er den Anschlag in Paris umgehend als „hinterhältige terroristische Attacke“.

Korrespondenten vor Ort sind häufig auf die Berichte von Augenzeugen angewiesen, die der Gewalt entkommen konnten – zu überprüfen sind diese Informationen nicht. Es dauerte vier Tage nach Bekanntwerden des Angriffs, bis Journalisten einen hochrangigen Militär darauf ansprechen konnten: „Natürlich gab es eine Attacke. Aber keine Sorge – wir arbeiten daran“, zitiert ihn die BBC und setzt hinzu, dass genau dieser Mann vor Monaten über einen Waffenstillstand mit Boko Haram informiert hat – was sich als völlig falsch herausgestellt hat. Warum also 2000Opfer? Augenzeugen sprechen von hunderten Toten auf den Straßen, die Zahl 2000 nennt schließlich ein lokaler Politiker, der aber auch nicht vor Ort ist. Keiner ist das – es ist viel zu gefährlich.

Am Montagabend also, zehn Tage nach den ersten Berichten, gibt die Regierung ein Statement ab: Die Zahl der Opfer in Baga habe bis jetzt rund 150 nicht überstiegen. Eine Untersuchung werde es nie geben, „das wissen wir“, schreibt BBC-Korrespondent Will Ross. Und: „Es wird nicht das erste Mal sein, dass wir nicht sicher sind, ob 150, 300, 500 oder sogar 2000 Menschen bei einem Massaker in Nigeria getötet worden sind.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2015)

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