Vernichtungskrieg der Boko Haram

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SPACE NIGERIA SATELITE IMAGE OF BAGA(c) APA/EPA/MICHAH FARFOUR / DigitalGlobe / AMNESTY INTERNATIONAL (MICHAH FARFOUR / DigitalGlobe / AMNESTY INTERNATIONAL)
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Satellitenaufnahmen aus dem Nordosten dokumentieren die Verwüstung nach Angriffen der islamistischen Terrorgruppe. Die Nachbarländer, aber auch die USA, sind zunehmend alarmiert.

Wien/London/Abuja. Bei der Aufklärung der jüngsten Massaker im Nordosten Nigerias durch die Terrorgruppe Boko Haram sollen nun Satellitenbilder helfen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) haben mehrere Aufnahmen veröffentlicht, die die attackierten Städte Baga und Doron Baga zeigen. Sie belegen Zerstörungen großen Ausmaßes seit den ersten Angriffen am 3.Jänner.

Vor allem Doron Baga – zweieinhalb Kilometer entfernt von der einstmals 10.000-Einwohner-Stadt Baga – scheint in großen Teilen nicht mehr zu existieren. AI spricht allein dort von 3100 beschädigten oder komplett zerstörten Einheiten, HRW von 57Prozent der Stadt. In Baga selbst zählt AI 620 Gebäude, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Laut HRW wurden elf Prozent der Stadt verwüstet.

„Von allen Angriffen der Boko Haram, die von Amnesty International analysiert worden sind, ist das der größte und zerstörerischste“, sagt der Nigeria-Analyst der Organisation, Daniel Eyre. „Er stellt eine bewusste Attacke auf Zivilisten dar, deren Häuser, Krankenhäuser und Schulen bis auf die Ruinen niedergebrannt worden sind.“

Hohe Opferzahl vermutet

Zwar können auch die Satellitenbilder die Frage nach der Zahl der Opfer nicht beantworten. Aber sie legten zusammen mit Augenzeugenberichten nahe, dass die Zahl wahrscheinlich viel höher liege als die von der Regierung genannten 150 Toten, erklärte Eyre. Die BBC hatte nach Bekanntwerden der Massaker unter Berufung auf lokale Quellen sogar von bis zu 2000 Todesopfern berichtet.

Amnesty International veröffentlichte zudem mehrere Zeugenaussagen, die das brutale Vorgehen der Kämpfer weiter dokumentierten. Ein Bewohner schilderte, dass eine Schwangere erschossen worden sei, als sie gerade ihr Kind zur Welt brachte. „Das Baby, ein Bub, war schon halb geboren“, sagte er. „In dieser Position ist sie gestorben.“ Auch seien viele Kinder von den Kämpfern getötet worden.

Ein rund 50-jähriger Zeuge erzählte, er habe allein in Baga hundert Tote gesehen. „Ich bin in den Busch gerannt“, erzählte er Amnesty. „Und während wir rannten, haben sie weiter geschossen und gemordet.“ Ein anderer Bewohner versteckte sich erst drei Tage lang, dann floh er fünf Kilometer durch den Busch. Überall seien Leichen gelegen, sagte er. Die Namen der Zeugen nannte Amnesty nicht.

Mögliche Kriegsverbrechen

AI fordert nun eine Untersuchung der Vorfälle rund um Baga. Die vorsätzliche Tötung von Zivilisten und die mutwillige Zerstörung ihres Eigentums stellten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

In Baga befand sich auch die Basis einer multinationalen Truppe, die sich aus Soldaten aus dem Tschad, Niger und Nigeria zusammensetzt. Seit 2012 beteiligten sich Kamerun und Benin an dem Einsatz. Ursprünglich sollte sich die Truppe um kriminelle Aktivitäten in der Grenzregion kümmern, doch inzwischen sind auch Anti-Terror-Maßnahmen gegen Boko Haram Teil ihrer Aufgabe.

Die Milizen der islamistischen Fanatiker, die in Nigeria ein Kalifat errichten wollen, sorgen in den Nachbarstaaten zunehmend für Unruhe. Kamerun, wo die Islamisten immer aktiver werden, geht schon seit Monaten militärisch gegen Boko Haram vor und hat erst vor ein paar Tagen rund 140 Kämpfer getötet. Der Tschad, wohin rund 11.000 Menschen nach den Angriffen auf Baga geflohen sind, hat Kamerun Unterstützung angeboten.

Washington alarmiert

Auch der Westen zeigt sich in hohem Maße alarmiert über die Aktivitäten der Terrorgruppe. US-Außenminister John Kerry reagierte am Donnerstag bei einem Besuch in der bulgarischen Hauptstadt, Sofia, empört über „das widerliche Massaker an Unschuldigen“ und warf Boko Haram – wie auch der Vatikan – Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. (raa/ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2015)

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