Weimar: Wo Goethes Fäuste rüde randalierten

Bertuch-Haus
Bertuch-Haus(c) Wikipedia
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Der deutsche Dichterstar hatte seinen Spaß daran, mit seinem Busenfreund, Herzog Carl-August, Menschen zu verprügeln und zu schikanieren. Eine Spurensuche.

Friedrich Justin Bertuch will gerade zur Sache kommen. Erstmals hat er seine junge Frau ins prächtige Palais heimgeführt, da stört Lärm vor dem Portal. Bertuch öffnet, wird von zwei jungen Männern in die Empfangshalle gedrängt. Sie beschimpfen ihn als Spießer, mokieren sich, dass er die Wände mit Tapeten verziert und reißen sie mit ihren Degen herunter, zünden ein Buch auf seinem Schreibtisch an und drohen, den großen Spiegel zu zertrümmern. Bertuch, Weimarer Unternehmer und Geheimer Sekretär am Fürstenhof, ist schockiert: Einer der Randalierer ist sein Chef, Herzog Carl-August, der andere dessen neuer Busenfreund, dieser kürzlich aus Frankfurt übersiedelte Dichter Goethe.
Heute ist von diesem Überfall nichts mehr im Bertuch-Haus, einem der schönsten Weimars und seit 1955 Sitz des Museums für Stadtgeschichte, zu sehen. Darin natürlich auch Zeitzeugenberichte von Goethes Ankunft 1775: In der Kluft seines Romanhelden Werther – blauer Frack, gelbe Hosen in Stulpenstiefeln – stolpert der damals 26-Jährige in die Residenzstadt des Bonsaifürstentums Sachsen-Weimar und Eisenach. Ein 6000-Seelen-Nest, das bis 1793 die Nachttöpfe aus den Fenstern leert. Wo heute Kopfsteinpflaster liegt, kam man damals trockenen Fußes nur per Sänfte an sein Ziel.
„Herzogin Anna Amalia steckt hinter Goethes Engagement. Sie lässt ihren Sohn schon seit 1772 vom Dichter Wieland erziehen, erhofft sich zusätzlich positiven Einfluss durch Goethe auf den seit Kurzem selbst regierenden, 18-jährigen Carl-August“, erzählt Stadtführerin Svea Geske vor dem Stadtschloss. Doch Dichter und Herzog raufen sich rasch zum Halbstarkenduo zusammen, das zum Schrecken der Leute morgens stundenlang auf dem Marktplatz die Hetzjagdpeitsche knallen lässt. Wer kann's lauter? „Damit nicht genug, sie ließen Frauen ihre Röcke heben und die Peitsche druntersausen“, erzählt Geske. Der Markt, Weimars zentraler Platz, ist heute ein friedlicher Ort, flankiert vom Rathaus und dem berühmten Hotel Elephant, dem Thomas Mann in „Lotte in Weimar“ ein Denkmal gesetzt hat.

Jour fixe mit Klatsch

Wer sich von hier treiben lässt, landet in der Windischenstraße mit ihren originellen Läden. Die heute verkehrsberuhigte Gasse ist Ende des 18. Jahrhunderts die Rennstrecke von Carl-August. Mit durchgehenden Pferden rast er aus dem heute pastellgelb strahlenden Wittumspalais, dem Alterssitz seiner Mutter, ins Grüne. Ein schwerer Unfall in der Windischenstraße ist belegt, die Kutsche überrollt einen Husaren und kippt um.
Woher wir das alles wissen? Weil Anna Amalia in eben jenem Palais am ersten Freitag im Monat einen Gelehrtenzirkel einlädt, einer der Teilnehmer fleißig zuhört und noch fleißiger mitschreibt: Klatsch, Intrigen und – heute würde man sagen – miese Mobbinggeschichten notiert Schulrektor Karl August Böttiger, als Altertumsexperte gern gesehen am Hof. Deutschlands erster Klatschreporter hält viele Storys zwar aus der Rückschau fest, wird aber durch Zeitzeugen bestätigt: den Hofdienern Carl Wilhelm Heinrich von Lynker und Karl Siegmund von Seckendorff etwa oder dem Dichter Johann Heinrich Voß, der 1776 seiner Frau schreibt: „In Weimar geht es erschrecklich zu, der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche in den Dörfern rum, er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.“
Die aus solchen Orgien entstehenden, sogenannten Kegelkinder des Herzogs verteilt Goethe im Auftrag seines Herren an Förster und Jäger, einmal auch an seinen besten Freund, Karl-Ludwig von Knebel. Und bei Anna Amalia im Literatenzirkel sinnieren die triebgesteuerten Machos dann gern darüber, dass „man in hiesiger Gegend so wenig erträgliche Gesichter unter den Bauernmädeln fände“. Wieland vermutet, es läge an ihrem Kuchenkonsum, Goethe hingegen doziert, die Unsitte, Lasten auf dem Rücken zu tragen, bringe platte Physiognomien hervor. Wenn Goethe eine solche zeitweilig selbst hat, dann liegt's daran, dass er sich regelmäßig mit dem Kammerherrn von Einsiedeln so heftig prügelt, bis Blut fließt, verrät Böttiger.

Großdichter mit FKK-Neigung

Der Schulrektor mit journalistischer Ader wohnt am heutigen Herderplatz, gleich neben der prächtigen, weißen Kirche St. Peter und Paul, für die der Herzog im Jahr 1776 Johann Gottfried Herder zum Generalsuperintendenten und ersten Prediger bestellt – auf Anraten Goethes. Dieser „mistet“, so schreibt er Herder, vor dessen Ankunft auch die Dienstwohnung aus. Im Klartext: Er setzt den bisherigen Pastor mitsamt Frau und zehn Kindern auf die Straße. Goethe, zunächst auch am Herderplatz wohnhaft, zieht im selben Jahr ins Gartenhaus im Ilmpark, das er kauft. Angeblich. Denn in Wahrheit muss der von Goethe drangsalierte Geheime Rat Bertuch die 600 Taler Kaufpreis aus der Schatulle des Herzogs verbuchen. Und wenig später wird in Weimar Goethes FKK-Neigung ruchbar: Verschreckte Spaziergänger sehen ihn nackt in die Ilm springen.
Der Stardichter erwähnt seine Eskapaden im Tagebuch knapp und verklausuliert: „Tags über Torheiten, dann Glasern geschunden.“ Gemeint ist Johann Elias Glaser, Krämer im nahen Stützerbach, dem Carl August die Vorratsfässer aus dem Lager holt und die Gasse herunterrollt. Goethe ritzt derweil den Porträtkopf aus einem Ölgemälde, steckt seinen eigenen von hinten durch das Loch und findet es rasend witzig. Die meisten der Gepeinigten ertragen diese Überfälle ohnmächtig. Bis auf eine Bäuerin vor den Toren Weimars. Herzog und Dichter ersäufen ihre Katze im Butterfass, kehren kurze Zeit später reumütig zurück und entschädigen die Frau mit einem Goldstück. Darauf sie: Die Butter haben wir an den Fürstenhof nach Weimar verkauft – „da freten sie alles“.
Klatschreporter Böttiger schreibt zwar für drei Journale, veröffentlicht solche Geschichten dort aber nicht, sondern tratscht sie in Weimar herum, sehr zum Verdruss aller Literaten. „Arschgesicht“ und „Vogelscheuche“ nennen sie ihn. Für Goethe ist Böttiger „einer der gründlichsten Schufte, die Gott erschuf“. 1801 verhindert Goethe den Abdruck einer Theaterrezension Böttigers, dieser veröffentlicht sie daraufhin in einem anderen Journal. 1804 wird Böttiger aus Weimar nach Dresden verdrängt. Seine aufgezeichneten Weimarer Skandale sind sämtlichen Verlegern zu heikel. Böttigers Sohn bringt das Buch 1838 heraus – entschärft und unter dem Tarntitel „Literarische Zustände und Zeitgenossen“. Die ungekürzte Fassung erscheint erst 1998 – unter anderem mit einer Beschreibung Goethes, die so gar nicht zu den von ihm bekannten Bildnissen passt: „Ekelhaft gelb im Gesicht, keine Haare mehr auf dem Kopf. Seine Augen sitzen im Fett der Backen, er selbst in niedergetret'nen Pantoffeln und herabhängenden Strümpfen im Lehnstuhl.“

WEIMAR-MUSTS: GOETHES ARBEITSPLATZ UND STAMMWIRTSHAUS SOWIE DIE BAUHAUS-UNI

Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek und Bauhaus-Rundgang: Hier, zwischen weißen, mit Gold verzierten Wänden arbeitete der Großdichter inmitten von Abertausenden Büchern und zahlreichen Plastiken. Schmuckstück der HAAB, wie Kenner sie nennen, ist der zweistöckige Rokokosaal, 2004 bei einem Brand schwer beschädigt. Karten für Besichtigungen der Bibliothek gibt es nur limitiert, darum unbedingt vorbestellen. klassikstiftung.de

Bauhaus: Für Architektur- und Designliebhaber ist Weimar vor allem die Geburtsstätte der Bauhaus-Bewegung und der Besuch der Bauhaus-Universität ein absolutes Must. Das Hauptgebäude wurde nach Plänen von Henry van de Veldes errichtet; ein „Bauhaus-Spaziergang“ zeigt Werke dieser 1919 hier gegründeten und bald vertriebenen Design- und Architekturschule: den bis zur Sesselzierleiste streng rechtwinklig eingerichteten Bürowürfel von Bauhaus-Gründer Walter Gropius im Uni-Gebäude etwa oder das Haus am Horn, einen Flachdach-Bungalow-Prototypen. uni-weimar.de/bauhausspaziergang

Erleben: Stadtführungen mit Svea Geske, allgemein zu Weimar oder zu bestimmten Themen, per Rad oder auf Inlineskates. +49/(0)3643/ 489 94 02. weimar-stadtfuehrung.de

Wohnen: Helle, warme Holzwände, geräumige Apartments, kostenlose Waschmaschine und Dachterrasse mit Sandkiste: das Familienhotel hält, was sein Name verspricht. DZ ab 70 Euro. Seifengasse 8, familienhotel-weimar.de

Hotel Elephant: wuchtig-strenges Fünf-Sterne-Palais mit marmorierten Wänden, Kanapees und getäfeltem Ballsaalfrühstücksraum. Goethe feierte hier seinen 80er, Hitler nutzte es als Parteizentrale. Markt 19, +49/(0)3643/8020, hotelelephantweimar.com
Essen und Trinken: Das Anno 1900 hat eine Speisekarte zum Grübeln: Ilmtal-Forelle an Rotweinvinaigrette oder lieber Straußenfilet in Cranberrybutter? Die Wahlqual im Wintergartenrestaurant mit Sofa und Kaffeehaustischen untermalt Pianistin Julia mit perlendem Jazzklavier. Geleitstraße 12a, +49/(0)36 43/903571).

„Der weiße Schwan begrüßt dich jederzeit mit offenen Flügeln“, besingt Goethe 1827 in einem Brief sein Stammlokal. Bis heute gibt es gekochtes Rindfleisch mit grüner Sauce, des Dichterfürsten Leibgericht. Sein Beerenpfannkuchen wird mit Goethe-Liebesgedicht serviert. Bis 3. März Winterpause. Frauentorstraße 23, +49/(0)3643/90 87 51

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