"Nato lässt uns gegen Jihadisten im Stich"

Anhänger von General Haftar kämpfen in der Hafenstadt Bengasi gegen radikale Islamisten. Aufgetaucht ist vor ein paar Monaten dort auch der IS. Reportage von der Front.

Plötzlich ein tiefer, lauter Knall, der einen zusammenzucken lässt. Die Soldaten lachen amüsiert. Auch Kommandant Walid al-Scharif kann ein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Keine Angst, das ist mein Panzer“, versichert der 38-jährige Leutnant. „„Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Frontlinie“, sagt al-Scharif und führt einen am Arm über die mit Glasscherben, Eisenteilen und Schutt übersäte Straße. Der Kommandant einer Spezialeinheit der Marine befehligt in Zentrum von Bengasi über 1000 Mann „im Kampf gegen Terroristen“, wie er erklärt. Seine Truppe ist Teil der Operation Würde, die General Haftar im Mai in der Hafenstadt im Osten Libyens startete, um die radikale Jihadistengruppe Ansar al-Scharia zu bekämpfen. 2012 hatten die Jihadisten das amerikanische Konsulat attackiert und den US-Botschafter getötet. In den Monaten danach ermordeten sie demokratische Aktivisten, Journalisten, Militärs und Polizisten. Mit aller Gewalt sollte ein islamistisches Emirat installiert werden. Mittlerweile ist auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an den Kämpfen beteiligt. „Wir hören sie deutlich im Funkverkehr“, versichert al-Scharif und beschleunigt seinen Gang.

„Sehen Sie, das hier ist die Frontlinie.“ Ein ausgebranntes Auto steht mitten auf dem Aschaschara-Platz. Die Häuserwände sind mit Einschusslöchern übersät. Al-Scharif geht einige Meter auf den Platz hinaus, die Soldaten bleiben in Deckung. „Weiter kann man nicht gehen“, meint der Offizier und deutet mit der Hand die Straße hoch. „Alles ist voller Heckenschützen.“

3000 Jihadisten in der Stadt

Danach geht es zum Gerichtsgebäude von Bengasi. Es ist leer geräumt. Selbst die Fenster fehlen. Im Treppenhaus auf dem Weg nach oben erzählt al-Scharif, dass er acht Jahre in Stuttgart und Schwäbisch-Gmünd lebte. 2011 ist er in sein Heimatland zurückgekommen, als die Revolution gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi begonnen hatte. Nach dem Tod des Diktators blieb er, um Libyen neu aufzubauen. Man merkt, dass es ihm Spaß macht, wieder einmal Deutsch zu sprechen. Er erzählt ohne Punkt und Komma.

Im vierten Stock treffen wir drei seiner Soldaten, die hier ihr Quartier eingerichtet haben. Geschlafen wird auf Matratzen am Fußboden, ihren Tee kochen sie auf einem kleinen Gaskocher. Al-Scharif führt zum Balkon. „Sehen Sie vorn die Corniche und das Meer? Dort sitzen die Terroristen.“ Es ist kein Kilometer bis ins feindliche Territorium.

General Haftar sprach bereits mehrfach vom „baldigen Ende“ der Kämpfe. „Einige wenige hundert Islamisten“ seien noch übrig, sagte Haftar, der einst unter al-Gaddafi diente, bis er in den 90er-Jahren von ihm abfiel und auch in der Revolution gegen sein Regime aktiv war.

„Wir kämpfen auch für den Westen“

Daran glaubt Frontoffizier al-Scharif allerdings nicht. Seiner Meinung nach könne es noch Monate dauern, bis die rund 3000 Extremisten aus der Stadt vertrieben sind. „Wir haben es hier nicht nur mit Libyern zu tun, sie kommen aus Ägypten, Tunesien, Algerien, manche sogar aus Somalia oder Pakistan.“ Sie seien sehr erfahrene Kämpfer, berichtet al-Scharif, die jederzeit bereit seien zu sterben. „Sie sind bestens bewaffnet, da sie die Waffenlager al-Gaddafis geplündert haben.“ Die libysche Armee bräuchte bessere Waffen, um mit den Islamisten fertigzuwerden. Ohne Hilfe könnte Libyen zu einem zweiten Irak werden. Al-Scharif versteht den Westen nicht. „Ihr müsstet uns helfen, denn wir kämpfen auch für den Westen. “ Europa liege auf der anderen Seite des Mittelmeers, und jeder wisse, dass die Terroristen dorthin wollten. „Die Nato hat uns gegen al-Gaddafi geholfen und lässt uns nun im Stich.“

Das bekommt man im Osten Libyens sehr oft zu hören. Für die meisten ist es mit dem Sieg über die Jihadisten nicht getan. Als Gefahr betrachten sie auch die Muslimbruderschaft, die in Tripolis die Fäden ziehen soll. Dort sitzt seit August eine Gegenregierung, die nach den Wahlen im Juni das legitime Kabinett aus der Hauptstadt vertrieb. Nun herrscht Krieg zwischen beiden Regierungen. Libyen ist in West und Ost gespalten, eine Lösung nicht in Sicht. Die von der UNO initiierten Friedensgespräche halfen nicht viel. Ein Waffenstillstand hielt nicht lange.

Lange Schlangen vor Tankstellen

Al-Scharif ist auf seinen Kampf gegen die Terroristen in Bengasi fokussiert. Allerdings glaubt er zu wissen, dass die Jihadisten über Misrata Nachschub von Tripolis und dem dort herrschenden Bündnis Fadschr Libya (Morgendämmerung) erhielten. „Wir haben ein modernes Aufklärungsschiff, das aus Frankreich stammt“, erklärt er. „Damit erkennen wir die Waffen und Munition auf den Schiffen, die für die Terroristen bestimmt sind.“ Er will noch einen anderen Außenposten zeigen, aber er bekommt einen Anruf und muss weg. In seinem Pick-up bringt er uns zurück ins zivile Leben. Und das scheint völlig normal zu verlaufen.

Cafés und Geschäfte sind geöffnet. Auf den Straßen stockt der Verkehr. Nur vor den Tankstellen gibt es lange Schlangen. „Benzin ist ein riesiges Problem“, sagt Mohammed Salama, Filmemacher und Fotograf aus Bengasi, den wir zum Kaffee treffen. Laut Ölministerium fördert das nordafrikanische Land nur mehr 367.780 Barrel pro Tag. Das ist die Hälfte vom November und weit unter den 1,6 Millionen Barrel pro Tag, die 2010 aus der Erde kamen. „Aber mit Elektrizität und Wasser geht es in letzter Zeit“, meint Salama zuversichtlich. Seine Wohnung liegt in der Nähe des Aschaschara-Platzes, also mitten in der Kampfzone. Er schläft manchmal bei den Soldaten im Gerichtsgebäude oder bei Freunden. In einem kleinen Rucksack hat sein ganzes Hab und Gut Platz. Kameras, Aufladegeräte und ein paar Klamotten.

Bald Konflikt zwischen Extremisten?

Besonders arg findet er seine Lage nicht. „Hauptsache ist, dass gegen die Islamisten gekämpft wird, denn ihre Herrschaft wäre das Ende Libyens.“ Er denkt dabei an die Terrormiliz IS, die seit einigen Monaten in Bengasi präsent ist. „Nachdem Mohamed al-Zahawi, der Führer von Ansar al-Scharia, an seinen Kampfverletzungen gestorben ist, könnte der IS eine Übernahme planen. Wir erwarten Konflikte zwischen den beiden Gruppen.“

Als liberaler Dokumentarfilmer, der bei internationalen Filmfestivals eingeladen war, steht Salama auf der Todesliste der Extremisten. Er will sich aber nicht einschüchtern lassen, bleibt in Bengasi. „Sie kennen meinen Namen, wissen jedoch nicht, wie ich aussehe“, sagt er grinsend. „Sonst würden sie Jagd auf mich machen.“ Einige seiner Freunde und Bekannten wurden von den Islamisten getötet. Andere sind außer Landes gegangen.

„Sie als Europäer sollten sich nicht zu lange in Bengasi aufhalten“, rät Salama und blickt auf die Uhr. „Unter der Zivilbevölkerung gibt es Spitzel, und die Islamisten würden sich über eine westliche Geisel sehr freuen.“ Die libysche Armee hatte ebenfalls vor einer Fahrt in die umkämpfte Hafenstadt gewarnt. „In Bengasi schneidet man Köpfe ab“, sagte ein Offizier aus Haftars Entourage.

Aus Sicherheitsgründen soll seit einem Jahr kein westlicher Reporter hier gewesen sein, meint Salama. „Aber es ist wichtig, über den Kampf gegen die Islamisten zu berichten.“ Denn es gehe nicht nur um Libyen, sondern um die ganze Region.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2015)

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