Leopold Figls Tochter schildert die Hektik und die traurigen Tage vor dem 15. Mai 1955: Seine geliebte Mutter war gestorben.
Anneliese Figl, die Tochter des Außenministers, war beim Abschluss des Staatsvertrags 19 Jahre alt und wohnte noch bei den Eltern in der Peter-Jordan-Straße in Döbling. „Ja, damals war das eben noch so in dem Alter“, sagt sie schmunzelnd. Sie bewohnt die Räumlichkeiten heute noch. Die Tage vor Unterzeichnung des Vertragswerks waren noch turbulenter als sonst, ständig waren Parteifreunde, Beamte, Diplomaten zu bewirten, die den Hausherrn mit guten, oft ungebetenen Ratschlägen versorgen wollten. Und mitten in diesen Trubel platzte die traurige Nachricht, dass Figls Mutter gestorben sei. „Der Vater musste also einen Begräbnistermin in Rust im Tullnerfeld mit den Verhandlungen unter einen Hut bringen. Auch das Requiem musste noch organisiert werden.“
Leopold Figl war tief betroffen. Er hing sehr an der Mutter. Ihr schönster Tag sei der 21. Dezember 1945 gewesen, hat sie oft gesagt. Damals saß sie oben in der Parlamentsloge, als ihr Bub als erster frei gewählter Bundeskanzler der Zweiten Republik die Regierungserklärung dem Hohen Haus vorstellte.
Und nun der Tod der Mutter und dieses letzte erbitterte Gezerre um jedes Wort, jede kleinste Passage, jede noch so unbedeutend erscheinende Zeile im Text des Staatsvertrags!
„Wir – meine Mutter, mein Bruder und ich – konnten daheim ja nichts tun“, erzählt die Frau Diplomkaufmann, „wir haben immer nur auf den Vater gewartet, ihn rasch bekocht – und schon war er wieder weg.“ Der zart gebaute Mann vom Bauernhof im Tullnerfeld muss eine erstaunliche Konstitution gehabt haben. Seine Nervosität glaubte er durch ungezählte filterlose Zigaretten mildern zu können. Man wundert sich, wie ein durch die KZ-Haft körperlich geschwächter Organismus solches durchhalten konnte. Und dann dieser Triumph am 15. Mai 1955!
Wo war die Figl-Familie? Die saß daheim vor dem Radio. (hws)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2015)