Wenn Fäuste fliegen lernen und der Chef zum Sandsack wird

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Boxen besteht nicht nur aus Schlagen – es verlangt Bewegung, Koordination, Konzentration und Kondition. In Österreich ist es ein Lifestyle-Trend. Ein Selbstversuch im Boxring.

Es ist der vielleicht härteste Hobbysport der Welt. Und dennoch, Boxen erlebt in Österreich einen Boom. Es ist aber nicht der Spitzensport, der die Massen als Zuschauer zum Ring treibt, sondern der Lifestyle-Aspekt. Boxen ist chic, es ist ein Erlebnis für Kinder, Frauen oder gestresste Manager. Der Ring birgt ein großes Geheimnis: Wer boxt, schwitzt. Boxer verbrennen mehr und schneller Kalorien als andere Sportler. Die Technik wirkt überaus filigran.

Es gibt trotz der Prämisse des Schlages Gespräche und Gemeinschaft anstatt des monotonen Hockens auf dem Hometrainer. Das Tänzeln der Beine erinnert, freilich mit viel Fantasie, an manchen (vielleicht plumpen) Einsatz in der Tanzschule. Die Bewegung der Arme, Schultern und des Kopfes stimuliert. Der Alltag ist im Nu verschwunden. Und so mancher Sandsack hat sich doch noch viel schneller in den gemeinen Chef verwandelt, als man glauben möchte...

Angst und Unbehagen sind fehl am Platz. Es gibt Sparrings, Training, Sandsäcke, Schattenübungen, eigene Frauen- und sogar Kindergruppen. In Wien gibt es Klubs und Vereine sonder Zahl, der Dunst der „Halbwelt“ hat in den modernen Anlagen, die getrost als Fitness- und Spa-Center durchgehen, kein Bestehen. Ein Schmuckstück der Zunft ist in Ottakring zu finden: Bounce. Klischees werden hier auf 1600 Quadratmetern und zwei Stockwerken nicht bedient. Es gibt keine Schlägertypen; 549 eingeschriebene Mitglieder ziehen hier tapfer ihre Runden, besuchen Kurse und Trainings. Kinder üben sogar dreimal wöchentlich, hier hat das ÖBV-Team seinen Stützpunkt.

Aha, ein Schwergewicht.

„Du willst ein Sparring machen?“ Daniel Nader, er ist ÖBV-Trainer und Geschäftsführer des Boxklubs, grinst. Er fragt nach der Gewichtsklasse, hüstelt („Aha, Schwergewicht...“) und deutet zum Ring. Dort thront Stefan Nikolic. Österreichs Boxsport hat einen Hoffnungsträger, zumindest ist er der Einzige, der bei den European Games in Baku (ab 15. Juni) für Rot-Weiß-Rot zwischen die Seile klettern wird. Der 20-Jährige misst 1,93Meter, seine Kampf-Vita weist stattliche Erfolge im Amateurbereich auf. Er träumt von Siegen bei den Games, bei der WM, der EM. Er will zu den Sommerspielen in Rio de Janeiro. Just seine Handfertigkeit sollte der „Presse“ ganz eigene „Eindrücke“ vermitteln. Nikolic, 20, Sohn serbischer Einwanderer mit schwedischen Wurzeln, nimmt den Termin gelassen. Sein Gegenüber ist ein „Versuchskaninchen“, das sehen und spüren will, was Boxen (annähernd) ausmacht, worin der Reiz liegt. Der HTL-Absolvent lächelt milde. Muskeln und Statur verheißen jedoch eine gehörige Tracht Prügel.

Beim Boxen geht es um Koordination, Bewegung, freilich das Schlagen, das Verteidigen, Abwehren; letztlich das oft zu langsame Ausweichen. Dem Aufwärmen folgen Übungen, die alarmierend vor Augen führen, dass Ratio, kognitive Wahrnehmung, Wunsch und körperliche Verfassung längst nicht mehr so übereinstimmen wie noch in Jugendtagen. Körperhaltung, Stellung der Beine, Haltung der Arme, Schritte, Schläge, Rückschritt, Verteidigung – es wirkt plötzlich alles unbeholfen.

Punch der „Cinderella“.

Marcos Nader, er ist Österreichs bester Boxer sowie Bruder des Cheftrainers, mimt den Referee. Er hat schon die Aufwärmübungen geleitet und musste durchgehend schmunzeln. Links und rechts, Richtungswechsel, vorwärts, rückwärts, nicht immer hatte das „Versuchskaninchen“ alles richtig umgesetzt. Selbst Schattenboxen ist weitaus schwieriger als man denken möchte.

Hampelmann springen, ein Leichtes. Im Ring aber, selbst vor nur wenigen Zuschauern, ein unmögliches Unterfangen. Linke Hand und rechtes Bein parallel vor, abwechselnd oder seitwärts? Keine Chance! Es erweckt den Eindruck, als habe man soeben das Laufen gelernt. Wie soll man dastehen, ehe einen Schicksal bzw. Fäuste ereilen? „Kopfschutz brauchst keinen“, Nader grinst wieder einmal unverschämt breit. „Und nicht so breit dastehen wie der Schwarzenegger, aber auch nicht wie Cinderella, ja? Bereit? Drei Minuten!“

Der Amateur, der sich augenblicklich in einen Profi verwandelt, bewegt sich ungeheuer flink. Nikolic trainiert täglich zweimal, dazu wandert er oft in die Kraftkammer, bearbeitet sorgsam den Sandsack oder prüft die Haltbarkeit diverser Plastikfiguren. Das macht er seit vier Jahren so. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum erweckte später dann noch größeren Respekt. „Ich wurde in der Schule zusammengeschlagen von drei Typen. Echt schlimm.“

Seine Schläge sind leicht – und dennoch spürbar. Warum denn? Keineswegs schmerzhaft, das war vorab irgendwie angedacht, letztendlich aber nicht offen ausgesprochen worden. Eine linke Gerade findet ungesehen ihr Ziel, den Bauch des Besuchers; ein überaus erbauendes Gefühl. Es folgt ein rechter Haken, doch der donnert in die Deckung. Der nächste aber sitzt und regt zum Nachdenken an. Dicke Schweißperlen kullern über die Stirn.

Nikolics Beine bewegen sich zusehends schneller als die Gedanken des Gegners. Es sei auch Sinn und Zweck der Übung, aber das sollte er ebenfalls erst später verraten. Boxen ist ja nicht nur Schlagen. Bewegung, in einer Tour. Taktik, Lauern, Finten, Beinarbeit; Stillstand bedeutet Prügel. Und da ist sie schon wieder: die gemeine, diese schnelle linke Gerade. Er spielt sein ganzes Repertoire ab, manche Reaktion aber kann sich sehen lassen. Ein „Gesichtsschubser“ da, ein Treffer dort, seine Antwort folgt trotzdem postwendend. Diesmal landet sie auf dem Kopf, das leicht touchierte Augenlid brennt. Es juckt höllisch.

Der verlockende Glanz des Selbstversuches zerbröckelt. Nur in Augenblicken des Glücks gelingt der Gegenschlag. Doch Distanz sowie das Pendel-Talent des Könners lassen das spektakulärer wirken, als es tatsächlich ist. Ein Erfolgserlebnis; das jähe Ende folgt ohnehin sogleich. Ein, zwei weitere Treffer, Nikolic schwitzt noch immer nicht, während sein Gegenüber zerfließt. Die zuvor ausgelobte Koordination ist schwer zu Boden gegangen; mit ihr auch schlagartig das zuvor unstillbare Verlangen der „Sparring-Kostprobe“. K. o. – Kostprobe over.


Der letzte Schrei: Abwinken! Die Arme werden schwerer, die vorab als federleicht empfundenen Boxhandschuhe sind plötzlich untragbare Sandsäcke. Die Beine stehen ohnehin längst still. „Cinderella“ will und kann nicht mehr. Zwei, drei weitere Treffer folgen. Es bedurfte keines Referees, das Abwinken allein genügte. Technisches K. o. im Fachjargon, keiner musste den anderen anzählen. Die erste Runde im Ring war noch halbwegs passabel, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Der zweite Durchgang endete jedoch vorzeitig, nach 1:30 Minuten; immerhin. Der Reiz des Sparrings war jedoch ersichtlich: Man pumpt sich aus, verletzt sich dabei aber nicht. Für Nikolic ist noch lange nicht Schluss. Sein Team und der Verband haben seine Marschroute abgesteckt. Klappt ein Top-drei-Platz in Baku, ist ihm das WM-Ticket gewiss, winkt die Aufnahme in eines der Topförderprogramme. „Es wäre wichtig, für ihn, für unseren Sport“, sagt Daniel Nader, Wenn sein Schwergewichts-Hüne (bis 91 kg) zuschlägt, kann er es vielleicht bis Rio de Janeiro schaffen.

Im Bounce-Klub läuft ungeachtet dessen der Betrieb weiter. In einem abgetrennten Raum übt eine Damengruppe. Sie lachen, aber auch ihre Treffer auf Schaumgummi und Schonern sind laut zu hören. Bewegung, sagt Nader noch einmal, dazu Anstrengung, Antrieb, Gruppendynamik, Spaß – die Lösung für viele Rätsel. „Und das Abnehmen geht unheimlich schnell.“


Training aus Selbstschutz. Es gibt Unterschiede zwischen jenen, die in den Ring steigen, um sich zu messen, und jenen, die schwitzen wollen. Nader treibt seine „Sichtungen“ voran, bei denen er Hobby- von Spitzensportlern trennt. 1500 Meter Lauf, 30 Meter Sprint, Liegestütz, Sit-up, Laufen mit dem drei Kilogramm schweren Medizinball: Wer all diese Prüfung bestehe, dürfe sich nach Monaten harten Trainings im Ring versuchen. Es ist eine Form der Auslese, auch des Selbstschutzes.

Nicht jeder kann Boxen, nicht jeder will boxen – aber es ist eine brillante Option, dem inneren Schweinehund einmal so richtig eine reinzuhauen.

Wo geboxt Wird

Bounce, 1160 Wien
Der Verein bietet Boxen und Kickboxen an – für Kinder und Erwachsene. Ferienaktion für Schüler in den Sommermonaten, inklusive Gratisschnuppertraining.

Boxing3gym, 1030 Wien
Das Studio bietet Thaiboxen für Frauen, gemischte Gruppen und Kinder an. Auch klassisches Boxen wird gelehrt. Gratiskennenlerntraining.

Fightclub Graz
In der steirischen Landeshauptstadt werden Wettkämpfer, aber auch Hobbysportler im Kick- und Thaiboxen trainiert.

Boxen

20Schnupperkurse
pro Woche bietet der Bounce-Klub an.

45Kinder
trainieren dreimal
pro Woche. Der Klub zählt 549 Mitglieder.

18Millionen
Mitglieder zählt der (Olympia-)Weltverband AIBA. 265 Österreicher haben eine Boxlizenz.

3Minuten
dauert eine Runde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2015)

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