UNO: „Die Situation gerät außer Kontrolle“

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Fast 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – so viele wie nie zuvor. Jeden Tag kommen 42.500 neue hinzu.

Genf/Wien. Der Bürgerkrieg in Syrien, das Chaos in Somalia, der Terror in Mali, die Unsicherheit in der Ukraine – überall sind Menschen auf der Flucht, weltweit fast 60 Millionen. Und jeden Tag kommen 42.500 Menschen dazu. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat schlägt deshalb Alarm: „Das ist die höchste Zahl, die jemals vom UNHCR verzeichnet wurde“, schreibt die Organisation im Jahresbericht 2014, der am Donnerstag veröffentlicht wurde. „Die Situation gerät außer Kontrolle“, warnt UNHCR-Chef António Guterres.

Nur noch bis Jahresende steht der Portugiese an der Spitze der UN-Organisation, die sich weltweit um die Menschen kümmert, die ihre Heimat verlassen mussten. Als er das Amt vor zehn Jahren antrat, war die Zahl der Flüchtlinge gerade so tief wie seit 26 Jahren nicht mehr gesunken. Nun, am Ende seiner Amtszeit, klingt Guterres frustriert: „Das Ausmaß der globalen Flucht und Vertreibung stellt alles davor Gewesene in den Schatten.“

Von den fast 60 Millionen Menschen, die der UNHCR-Bericht nennt, haben 19,5 Millionen ihr Heimatland hinter sich gelassen und sind ins Ausland geflohen. Mit 38,3 Millionen liegt die Zahl jener, die innerhalb ihres Landes vertrieben wurden, noch höher. 1,8 Millionen sind Asylwerber.

Traurige Spitzenreiter

Das macht sich auch in Europa bemerkbar. Insgesamt gab es auf dem Kontinent bis Ende vergangenen Jahres 6,7 Millionen Flüchtlinge und Asylwerber. Zum Vergleich: Im Jahr davor waren es noch 4,4 Millionen. Über das Mittelmeer haben laut UNHCR 219.000 Menschen Europa erreicht, etwa 3500 kamen bei dem Versuch ums Leben. Es ist vor allem der Konflikt in Syrien, aber auch in der Ukraine, der die Zahlen in Europa so hat nach oben schnellen lassen. Denn auch die fast 1,6 Millionen Menschen, die aus Syrien auf die türkische Seite der Grenze flohen, zählen dazu. Überhaupt steht Syrien an der Spitze der Herkunftsländer, gefolgt von Afghanistan und Somalia – aus diesen drei Staaten allein kommen 53 Prozent aller Flüchtlinge weltweit.

Auch die Statistik der neu gestellten Asylanträge hat einen neuen Spitzenreiter: Die allermeisten erhielt Russland mit 274.700, gefolgt von Deutschland (173.100), den USA (121.200) und der Türkei (87.800). Hier macht sich der Konflikt in der Ukraine bemerkbar: Rund 99 Prozent der neuen Anträge in Russland kamen von Ukrainern. Der neue Konflikt im Osten Europas hat über 800.000 Menschen in die Flucht getrieben.

Globale Unfähigkeit

Die Türkei führt die Liste der Länder an, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Anders, als so manche populistische Äußerung glauben machen will, trägt Europa aber bei Weitem nicht die Hauptlast der Flüchtlingskrise. „Reichere Länder nehmen weit weniger Flüchtlinge auf als weniger reiche“, konstatieren die Flüchtlingsexperten. „Knapp neun von zehn Flüchtlingen befanden sich 2014 in Ländern, die als wirtschaftlich weniger entwickelt gelten.“
Guterres sieht die Schuld an der Situation auch bei der internationalen Gemeinschaft. „Die Staatengemeinschaft scheint nicht in der Lage, Konflikte zu vermeiden oder zu lösen.“ Allein in den vergangenen fünf Jahren sind 15 neue Konflikte ausgebrochen – von Libyen über Nigeria und den Südsudan bis hin zum Jemen und Gebieten in Burma. Weil kaum eine Krise gelöst werden konnte, sind 2014 auch weniger Menschen in ihre Heimat zurückgekehrt als in den drei Jahrzehnten zuvor.

„Die Welt ist zu einem Chaos geworden“, stellt Guterres bitter fest. „Wer glaubt, dass die humanitären Helfer das in Ordnung bringen können, täuscht sich.“ Dafür, sagt der UNHCR-Chef, fehlten inzwischen schlicht die Ressourcen.

Auf einen Blick

Kinder unter 18 Jahren machen die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit aus. Die Zahl der Menschen, die vor Kriegen, Konflikten oder Verfolgung innerhalb ihres Landes oder über die Grenzen hinaus geflohen sind, hat laut dem Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR) mit fast 60 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Ein Grund: In den vergangenen fünf Jahren sind mindestens 15 neue Konflikte ausgebrochen, so wie der Bürgerkrieg in Syrien, die Krise in der Ukraine oder die Gewalt durch die Terrorgruppe Boko Haram im Norden Nigerias. Weil viele alte Konflikte ungelöst geblieben sind, konnten 2014 aber auch weniger Menschen in ihre Heimat zurückkehren als in den vergangenen 30 Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2015)

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