44 Tote in der Türkei: Blutbad im Namen der Ehre

Der Ort Bilge wurde abgeriegelt.
Der Ort Bilge wurde abgeriegelt.(c) Reuters (Osman Orsal)
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Bei einer Verlobungsfeier wurden 44 Menschen getötet. Grund dafür war vermutlich eine Familienfehde. Keine Tradition könne eine Entschuldigung für dieses Verbrechen sein, verurteilte Premier Erdogan das Blutbad.

ISTANBUL. Das Massaker an den Gästen einer Verlobungsfeier in einem Dorf im Südosten des Landes hat in der Türkei die Diskussion um den traditionellen Ehrbegriff erneut entfacht. Obwohl die Hintergründe der Tat noch nicht ganz geklärt sind, deuten sowohl die Umstände als auch Erklärungen von offizieller Seite darauf hin, dass es ein Verbrechen aus gekränkter Ehre war.

Das Blutbad, bei dem 44 Menschen getötet wurden, ereignete sich in Bilge, einem von Kurden bewohnten Dorf vierzig Kilometer von Mardin. Das Dorf hat nur 32 Häuser, und die rund 250 Einwohner sind alle miteinander verwandt und tragen zum großen Teil den Nachnamen Celebi.

Am Montagabend hielt nach Einbruch der Dunkelheit eine Reihe von Männern aus Bilge als Mitglieder der vom Staat bewaffneten und finanzierten Miliz der „Dorfschützer“ außerhalb von Bilge wie jeden Abend Wacht gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Sie dachten sich zunächst nicht viel dabei, als sie aus dem Dorf Schüsse hörten, denn schließlich gab es dort eine Verlobungsfeier, und bei solchen Angelegenheiten wird in der Türkei viel in die Luft geschossen.

Nur drei Überlebende

Die Tochter des ehemaligen Dorfvorstehers Cemil Celebi, Sevgi Celebi, verlobte sich mit Habip Ari. Es soll, so wird in der türkischen Presse kolportiert, auch einen anderen Anwärter gegeben haben, dessen Gesuch aber abgelehnt wurde. Nach einer religiösen Zeremonie und einem Essen im Haus des Dorfvorstehers zogen sich Männer und Frauen in getrennte Räume zurück, um zu beten.

In diesem Moment tauchten vier maskierte Männer mit automatischen Gewehren und Handgranaten auf und ermordeten alle Anwesenden. Unter den Opfern befanden sich sechs Kinder und siebzehn Frauen. Auch Braut und Bräutigam wurden ermordet.

Die Täter sollen ihre Opfer nach dem Massaker noch einzeln kontrolliert haben, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich tot sind. Nur ein dreijähriges Kind, ein sechzehnjähriges Mädchen und ein Mann überlebten.

Bevor sich die Mörder zurückzogen, zerschossen sie die Reifen aller Autos im Dorf, um eine Verfolgung zu verhindern. Mittlerweile versuchten auch die Wachen außerhalb des Dorfes einzugreifen, doch die Täter entkamen unerkannt. Dass sie eine Viertelstunde lang unbehelligt morden konnten, lag auch daran, dass es im Dorf keine Telefonverbindung gab und man mit Handys erst auf eine nahe Anhöhe steigen muss, um die Außenwelt zu erreichen. Offenbar kannten sich die Angreifer im Dorf gut aus.

Der türkische Innenminister Besir Atalay und ein Vertreter des Gouverneurs von Mardin schlossen gestern, Dienstag, aus, dass es sich bei dem Massaker um einen Überfall der PKK gehandelt haben könnte. Laut Atalay sollen acht Männer, die alle selbst zum Dorf gehören, festgenommen worden sein. Die Spuren deuten angeblich auf eine „Feindschaft zwischen verwandten Familien“ als Ursache für das Verbrechen.

Staat soll strenger vorgehen

Im Osten der Türkei ist noch immer ein Ehrbegriff verbreitet, der die Mitglieder zum Mord an eigenen Familienmitgliedern, meistens Frauen, oder an Mitgliedern eines verfeindeten Clans veranlasst. Im Türkischen sind hierfür die Worte „töre“ und „namus“ in Gebrauch. In einer am Dienstag durchgeführten Blitzumfrage des Nachrichtensenders „CNN Türk“ meinten 85 Prozent der Teilnehmer, dass der Staat nicht genügend gegen die „töre“ tue.

Insbesondere im kurdischen Südosten halten viele Menschen dem Staat zum Trotz am traditionellen Gesetz der Ehre fest. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo?an verurteilte den veralteten Ehrbegriff scharf: „Keine Bräuche und keine Sitten können als Entschuldigung für dieses Massaker herhalten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2009)

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