Ankaras gefährliche Wahltaktik

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Seit die Regierung der PKK und dem Islamischen Staat gleichermaßen den Krieg erklärt hat, eskaliert die Lage. Am Dienstag soll eine Nato-Sondersitzung dazu stattfinden.

Istanbul. Die Reaktion der türkischen Regierung auf die Gewaltaktionen des Islamischen Staates (IS) im Grenzgebiet zu Syrien und auf neue Anschläge der PKK-Kurdenrebellen haben das Land in eine schwere Krise gestürzt. Am Sonntag wurde bekannt, dass Ankara eine Nato-Sondersitzung einberufen hat – die Regierung bezieht sich dabei auf Artikel vier des Nato-Vertrags, der angewendet wird, wenn Sicherheit und Unversehrtheit eines Landes in Gefahr sind. Das Treffen soll Dienstag stattfinden. Ein Thema dürfte dabei auch die von der Türkei gewünschte Sicherheitszone im Norden Syriens sein. Damit hofft Ankara unter anderem, die Autonomiebestrebungen der Kurden eindämmen zu können.

Seit Freitag haben türkische Kampfjets Medienberichten zufolge in 159 Einsätzen rund 400 Ziele des IS und der PKK angegriffen. Damit reagierte die Regierung auf den mutmaßlich vom IS verübten Anschlag von Suruç, bei dem 32 Menschen starben, sowie auf Racheakte der PKK, die dem türkischen Staat eine Mitverantwortung für das Massaker zuweist und deshalb mindestens vier Polizisten und Soldaten getötet hat. Am Wochenende kam es zu einer Explosion im osttürkischen Lice, als ein Militärfahrzeug eine Straße passierte. Zudem wurden mehrere Polizeiwachen in Diyarbakır, Siirt und Mardin angegriffen. Die PKK hat den Waffenstillstand für beendet erklärt.

Die türkische Polizei nahm am Wochenende rund 600 Menschen als mutmaßliche Extremisten fest, darunter viele Kurden. Auch der Zugang zu einigen linksgerichteten und kurdischen Webseiten wurden verboten, sowie ein Protestmarsch in Istanbul. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas gegen Demonstranten vor. Die regierungsnahe Zeitung „Takvim“ meldete, die Staatsspitze sei entschlossen, den Kampf gegen Gruppen wie IS und PKK „bis zum Ende“ fortzusetzen.

Kritiker vermuten, dass es Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu nicht nur um die Verteidigung des Staates geht. Demnach würden sie alles daran setzen, ihrer Regierungspartei AKP einen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Dreh- und Angelpunkt dieser Haltung ist die Aussicht – manche sagen: die Hoffnung – auf vorgezogene Neuwahlen im November, falls die derzeitige Suche nach einer neuen Koalition erfolglos bleibt.

Hoffnung auf Präsidialsystem

Die Opposition sagt Erdoğan nach, er wolle einen neuen Urnengang erzwingen und die AKP nach der Wahlschlappe vom Juni zum Erfolg führen, um auf diese Weise doch noch ein Präsidialsystem einführen zu können. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtaş, warf der Regierung vor, alle Aktionen der letzten Tage dienten allein dem Zweck, Neuwahlen zu erzwingen und der HDP zu schaden.
Instabilität, so lautet demnach die Überlegung der AKP, erschreckt die Wähler – und die könnten deshalb bei Neuwahlen massenweise zur AKP zurückkehren.

Umgekehrt könnte neue Gewalt im Kurdengebiet der HDP schaden, die im Juni mit 13 Prozent der Stimmen überraschend stark abschnitt. Zudem ziele die AKP-Taktik darauf ab, Wähler von der rechtsnationalen Partei MHP für die Regierungspartei zurückzugewinnen, kommentierte der Meinungsforscher Özer Sencar auf Twitter.
Diese Taktik ist nicht nur wegen der drohenden Eskalation der Gewalt sehr gefährlich, sondern für Erdoğan auch politisch riskant: Einige Umfragen sagen der AKP bei einer Neuwahl eine neue Niederlage statt einen strahlenden Sieg voraus.

Erdoğan und Davutoğlu sehen das offenbar anders. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Präsident und Premier die jüngsten Spannungen im Dienste ihrer Wahlstrategie absichtlich auslösten, wie das einige Verschwörungstheoretiker behaupten. Doch beide Politiker fachen die Situation weiter an, statt zu deeskalieren. Die ersten Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak seit Jahren sind das beste Beispiel dafür. Die PKK-Mordanschläge auf die Polizisten sind furchtbare Gewalttaten, doch die Antwort Ankaras mit Kampfjets war völlig überzogen und zeigte, wie sehr die Regierung auf Krawall gebürstet ist.

Aufruf zur Ruhe

Die Haltung des kurdischen Lagers ist noch unklar. Einerseits rufen Kurdenpolitiker wie Demirtaş zu Ruhe und Besonnenheit auf, um die vermutete Taktik der AKP zu durchkreuzen. Gleichzeitig bekennt sich die PKK zu den Morden an Vertretern des türkischen Staates. Dies sind Zeichen dafür, dass auch bei den Kurden einigen Kräften mehr an Eskalation als an Verständigung gelegen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2015)

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