Hat Europa in der Krise versagt?

Syrian refugees on a dinghy drift in the Aegean sea off the Greek island of Kos in Greece
Syrian refugees on a dinghy drift in the Aegean sea off the Greek island of Kos in Greece REUTERS
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60 Prozent der EU-Bürger sind der Ansicht, dass die Union nicht in der Lage ist, mit den vielen Flüchtlingen aus Nordafrika und Nahost umzugehen.

Brüssel/Wien. Es handelt sich zwar lediglich um eine erste Stichprobe, doch ihre Ergebnisse sind für die europäischen Spitzenpolitiker alles andere als erfreulich: Die EU-Bürger stellen ihnen nämlich ein miserables Zeugnis aus, was die Bewältigung (bzw. Nichtbewältigung) der aktuellen außen- und wirtschaftspolitischen Krisen – Griechenland, Flüchtlinge, IS – anbelangt. Diesen Schluss lässt zumindest eine Umfrage unter 7000 Personen in sieben westeuropäischen Mitgliedstaaten der Union zu, die am gestrigen Mittwoch veröffentlicht wurde. Auftraggeberin der Enquete war die auf Public Relations und Lobbying spezialisierte Agentur Cambre Associates, durchgeführt wurde die Umfrage vom britischen Institut Opinium im Zeitraum 29. Juni bis 10. Juli in Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal und den Niederlanden.

Für Tom Parker, den Geschäftsführer von Cambre Associates, lassen die Ergebnisse nur einen Schluss zu: „Die EU befindet sich in der wohl größten Krise seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses 1957.“ Demnach sind 60 Prozent der EU-Bürger der Ansicht, dass die Union im Umgang mit den aus Libyen übers Mittelmeer nach Europa gelangten Flüchtlingen versagt habe, 67 Prozent der Befragten werfen der EU Versagen im Umgang mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) vor, 62 Prozent sind mit dem Umgang mit Griechenland unzufrieden. Im Zusammenhang mit der Eurokrise gibt es allerdings einen, wenn auch schwachen, Trost: Die Umfrage wurde noch vor der Grundsatzeinigung auf ein drittes Hellas-Hilfsprogramm am 12. Juli durchgeführt, ihre Ergebnisse diesbezüglich wurden also von den Ereignissen überholt.

Mehrheit für Flüchtlingsquoten

Wie der Umgang mit der Flüchtlingskrise beurteilt wird, hängt – wenig überraschend – von der geografischen Lage ab: Während 84 Prozent der befragten Italiener der Ansicht sind, die EU habe in der Krise versagt, teilen nur 48 Prozent der Deutschen diese Meinung. Auch was die Frage der Zuständigkeit für die Neuankömmlinge anbelangt, korrelieren Meinung und Breitengrad: Während 60 Prozent der befragten Italiener das im Abkommen von Dublin verankerte Prinzip ablehnen, wonach das erste von einem Flüchtling betretene EU-Land für dessen Asylantrag zuständig ist, sind 56 Prozent der (von der Krise im Mittelmeer nicht direkt betroffenen) Briten dafür. In Deutschland halten sich Befürworter und Gegner des Dublin-Prinzips mit 33 zu 36 Prozent annähernd die Waage.

Diesen Differenzen zum Trotz spricht sich in West- und Südeuropa offenbar eine deutliche Mehrheit für ein Quotensystem für die Aufteilung der Asylwerber auf alle EU-Mitglieder aus. 54 Prozent der Befragten befürworten ein Quotensystem, 22 Prozent sind dagegen – die höchste Zustimmungsrate gab es mit 81 bzw. 67 Prozent in Italien und Deutschland. Interessanterweise ist Frankreich das einzige Land, in dem eine relative Mehrheit der Befragten (38 zu 33 Prozent) einen Verteilungsschlüssel ablehnt.

Apropos Frankreich: Liegen die britischen Demoskopen richtig, dann sollte sich François Hollande auf einen stürmischen Herbst einstellen. Bis Sommerende will der französische Staatspräsident einen Reformplan für die Europäische Union präsentieren: Hollande will darauf drängen, die Mitglieder der Eurozone enger aneinanderzubinden – dem Vernehmen nach geht es um die Etablierung eines Finanzministers für die Währungsunion sowie einer separaten Eurozonen-Kammer im Europaparlament.

Ein (in Paris nicht offen ausgesprochenes) Motiv für Hollandes Bemühungen ist die Tatsache, dass Frankreich gegenüber Deutschland ökonomisch ins Hintertreffen geraten ist – und sich in der jüngsten Auflage der Griechenland-Krise mit einer Nebenrolle begnügen musste. Doch anders als Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der französische Staatschef ein handfestes Problem mit seinen Wählern: Gemäß der Opinium-Umfrage befürworten nur 24 Prozent der Franzosen eine tiefere Integration der EU, während sich 30 Prozent der Befragten in Deutschland für eine Übertragung weiterer staatlicher Befugnisse auf die europäische Ebene aussprechen. 32 Prozent der Franzosen, aber nur 24 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass die EU-Integration zu weit fortgeschritten sei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2015)

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