Anlässlich wiederkehrender Misshandlungsvorwürfe rät Notfallpsychologe Cornel Binder-Krieglstein: Beamte sollten sich ihr Aggressionsniveau klarmachen.
Wien. Jemand hat es also wieder getan. Ein Anrainer – und zufälliger Beobachter. Es war Ende Juli, als der Mann dieses private Handyvideo machte und an Medien weiterleitete. Darauf zu sehen sind zwei junge Polizisten. Sie nehmen in Wien Leopoldstadt einen mutmaßlichen Taschendieb fest. Die Hände des Manns sind schon am Rücken gefesselt. Plötzlich packt ein Beamter den Mann von hinten am Hals und schleudert ihn – Gesicht voran– zu Boden.
Aus dem Ruder geratende Amtshandlungen (freilich muss man immer die Entstehungsgeschichte analysieren) sind auch nach noch so vielen internen Schulungen der Polizei (die in den weitaus meisten Fällen korrekt agiert) künftig nicht auszuschließen. Aber man kann die Psychologie verstärkt ins Spiel bringen. So rät Notfallpsychologe Cornel Binder-Krieglstein im „Presse“-Gespräch, Polizeibeamte sollten vor Amtshandlungen eine Art Check der eigenen Tagesverfassung durchführen.
„Was ist das Ziel meiner Amtshandlung?“ – „Wo steht mein Aggressionsniveau?“ – „Welchen (emotionalen) Rucksack habe ich heute dabei?“ – Oder etwa (im übertragenen Sinn): „Worauf bin ich allergisch?“ So oder so ähnlich müssten, laut Binder-Krieglstein, die Fragen lauten, die sich Beamte vor Einsätzen selbst stellen sollten.
Sollte diese Reflexion auf eine ungeeignete Tagesverfassung hindeuten, wäre es für den Betroffenen ratsam, sich mit Kollegen abzusprechen. Wer, salopp formuliert, nicht gut drauf ist, muss nicht derjenige sein, der in der ersten Reihe steht. Oder derjenige, der einen Zugriff dirigiert.
Und: „Junge Beamte brauchen einen Buddy.“ Also einen älteren, routinierten Kollegen, der eine brenzlige Situation aufgrund seiner Erfahrung besser einschätzen kann. Eben dies wird von der Polizei zum Teil auch so gehandhabt.
Allerdings lässt sich dies gerade in der – zuletzt ins Gerede gekommenen – Wiener Bereitschaftseinheit, die als Durchgangsstation für junge Beamte gilt, naturgemäß nicht verwirklichen. Auch insgesamt ist die Wiener Polizei ziemlich jung. Von den ungefähr 6000 Beamten in Uniform ist jeder dritte zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das liegt auch daran, dass Wien seit 2009 jedes Jahr 450 neue Polizisten einstellt.
Zur Erinnerung noch diese Zahl: Im Vorjahr gab es 250 Anzeigen gegen Polizisten, aber keine Verurteilung. „Ich wundere mich“, sagt dazu Walter Hammerschick, der Geschäftsführer des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Er schlägt ein dichteres Beschwerdesystem vor. Dies wäre die beste Waffe, um den innerhalb der Polizei vorherrschenden Korpsgeist zu schmälern. Tatsächlich scheint nach wie vor zu gelten: „Einen Kollegen patzt man nicht an.“ Kaum ein Video zeigt, dass andere Beamte eingreifen, wenn sich Kollegen falsch verhalten.
Ruf nach neuer Behörde
Wie könnte das System verbessert werden? „Das Beschwerdewesen der Exekutive greift nicht richtig, weil es in der Polizei angesiedelt ist. Es braucht eine Beschwerdestelle außerhalb der Exekutive“, sagt Hammerschick. An diese neu zu schaffende Stelle könnten sich dann Personen wenden, die mutmaßlich Opfer eines Polizeiübergriffs wurden. „Es müsste dafür eine neue Behörde eingerichtet werden“, so Hammerschick, der aber betont, dass es sich um Überlegungen handelt, die es noch durchzudenken gelte.
Sollte eine solche neue Beschwerdestelle kommen, so könnte dies wohl zu Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zur Staatsanwaltschaft führen. Denn: Wenn zum Beispiel ein Verdächtiger im Rahmen einer Amtshandlung vorsätzlich misshandelt wird, so wäre der verdächtige Polizist ein Fall für den Staatsanwalt. Die vorgeschlagene neue Beschwerdestelle müsste also eher niederschwellig agieren.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2015)