Männliche Mutproben in schwindelnder Höhe

(C) Asac - la Biennale di Venezia
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Das Festival in Venedig eröffnete mit Baltasar Kormákurs „Everest“. Der lässt den Atem nur kurzzeitig stocken, kann weder Gefahr und Höhenrausch noch die Gruppendynamik beim Gipfelsturm vermitteln.

Der Markt wird von Jahr zu Jahr härter. Das Filmfest Venedig, das am Mittwoch mit dem 3-D-Bergsteigerdrama „Everest“ seine 72. Ausgabe eröffnete, gehört in der (europäischen) Medienwahrnehmung als altehrwürdige Institution neben Cannes und Berlin zwar immer noch zur Oberliga, doch jüngere Events drohen ihm sukzessive den Rang abzulaufen. Besonders das Toronto International Filmfestival, das sich 2015 nicht zum ersten Mal mit Venedig überschneidet, ist mit seinem massiven Filmaufgebot zum Tummelplatz für Industrievertreter avanciert und macht dem Lido Besucher und Berichterstattung streitig. Für besonderen Unmut sorgten aggressive Richtlinien der kanadischen Veranstaltung, die Filmen die Teilnahme versagten, wenn sie anderswo ihre Premiere hatten – heuer wurde diese strategische Zugangsbeschränkung wieder aufgehoben.

Eröffnungsfilm: Hauptsache groß

Bei diesem Hahnenkampf geht es um Aufmerksamkeit, Qualität gerät ins Hintertreffen. Im italienischen Krisenjahr 2012 wurde der damalige Kinomostra-Intendant Marco Müller, der schon Rotterdam und Locarno zur cinephilen Blüte verhalf, vom ehemaligen Leiter Alberto Barbera abgelöst, zeitgleich installierte man nach Cannes-Vorbild einen Marktplatz, um Branchenrelevanz zu beweisen. Blickt man ins diesjährige Programm, strahlt einem erst einmal Glamour entgegen, US- und UK-Prominenz schmückt fast alle Sektionen: Selbst der Zweitbewerb Orizzonti – ein Schaufenster für innovatives Kino – kann mit Beiträgen unter Mitwirkung von Robert Pattinson und Shia LaBeouf aufwarten. Betreffs renommierter Kinokünstler steht Venedig hingegen etwas dürr da im Vergleich zu seinen Euro-Rivalen, obwohl sich im Rennen um den Goldenen Löwen Werke von Jerzy Skolimowski, Marco Bellocchio, Aleksandr Sokurov und Charlie Kaufman finden. Die herbstliche Positionierung verliert an Attraktivität – andererseits schafft die überschaubare Anzahl namhafter Regiegrößen mehr Raum für die Entdeckung frischer Talente.

Für den Eröffnungsfilm am Lido galt aber schon immer: Hauptsache groß. Also aufwendig, bildgewaltig oder starbesetzt. Heuer hätte es „The Walk“ werden können, Robert Zemeckis‘ Verfilmung von Philippe Petits legendärem Drahtseilakt am World Trade Center, doch den hat sich das New York Film Festival geschnappt. Stattdessen entschied Barbera sich für „Everest“, thematisch gar nicht so weit entfernt: Auch hier geht es um männliche Mut- und Bewährungsproben in schwindelerregenden Höhen. Der Film des Isländers Baltasar Kormákur ist eine Nacherzählung der tragischen Ereignisse, bei denen im Mai 1996 während kommerzieller Expeditionen auf den Achttausender acht Menschen ums Leben kamen. Der Handlung liegen widersprüchliche Erfahrungsberichte zugrunde: Ein Journalist und mehrere Überlebende haben Bücher über den Hergang des Unglücks verfasst, die sich zum Teil heftigst widersprechen. Kormákurs Version wird die Sache wohl auch nicht klären.

„Everest“ legt seinen Fokus auf die Südseite des titelgebenden Zentralmassivs, von dem aus zwei Extremsportfirmen mit Kleingruppen von Erlebnistouristen den gefährlichen Gipfelsturm in Angriff nehmen. Der Australier Jason Clarke spielt Rob Hall, den neuseeländischen Leiter von „Adventure Consultants“, als vernünftigen Familienvater, der dem paradoxen Titel seines Unternehmens gemäß stets auf die Sicherheit seiner Klienten bedacht ist. Auch bei „Mountain Madness“ spricht der Firmenname: Scott Fischer wird von Jake Gyllenhaal als Hippie-Bergfex angelegt, für den die „altitude“ (Höhenlage) nur eine Frage der „attitude“ (Einstellung) ist. Im Zuge der Etappen ihres Aufstiegs protokolliert der Film minutiös die (Fehl-)Entscheidungen der erst rivalisierenden und dann kooperierenden Gruppen, bis die Katastrophe in Form eines abrupten Wetterumschwungs über sie hereinbricht.

Visuell bietet „Everest“ ergötzliche Gebirgspornografie (gedreht in Nepal und den Dolomiten), kann aber Gefahr und Höhenrausch nicht vermitteln: Zu anmutig sind Salvatore Totinos gleitende Flugaufnahmen und Kranfahrten über Eisblöcke und Gletscherspalten. Nur in der späten Schlüsselsequenz, als das Frostgewitter die Leinwand verdunkelt und das Tondesign zum Sturm auf die Gehörgänge bläst, stockt einem kurzzeitig der Atem.

Vom Survival-Pathos erdrückt

Die Erforschung der komplexen Gruppendynamik bleibt in ihren Ansätzen stecken, am besten funktioniert das gegen Ende von Survival-Pathos erdrückte Drama als Ensemblestück über von Schnee und Eis geschunde Männerkörper. In Nebenrollen gehen Josh Brolin, John Hawkes und Sam Worthington mit wirkungsvollem Körpereinsatz an Erschöpfung zugrunde, während man die Frauenfiguren auch hätte weglassen können: Keira Knightley, Robin Wright und Emily Watson bestreiten zuhause oder in Basislagern das Abenteuer Ferngespräch. „Everest“ ist kein besonders überzeugender Festivaleinstieg – aber der Kinomostra bleiben noch zehn Tage Zeit, um steilere Kinogipfel zu erklimmen.

VENEDIG

Die 72. Filmfestspiele bringen heuer viele Starvehikel an den Lido: In Scott Coopers Gangsterepos „Black Mass“ sind Johnny Depp, Benedict Cumberbatch und Peter Sarsgaard zu sehen. Oscarpreisträger Eddie Redmayne spielt an der Seite Alicia Vikanders in Tom Hoopers „The Danish Girl“. In der Sektion „Venice Classics“ wird am 9. September der einzige Österreich-Beitrag uraufgeführt: „Helmut Berger, Actor“, Andreas Horvaths Porträtfilm über den legendären Schauspieler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2015)

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