Gesundheitskonflikt: Patienten droht Zahlen beim Arzt

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Kündigung der Gesamtverträge mit den Krankenkassen brächte Mehrkosten für Kranke. Ministerin Oberhauser ist ungehalten und setzt auf Verhandlungen.

Wien. „Ich kann es nicht nachvollziehen.“ Sozialminister Rudolf Hundstorfer fehlte jedes Verständnis für die Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte. Diese hatte am Montagabend erklärt, bundesweit die Gesamtverträge mit den Krankenkassen zu kündigen, sollten die geplanten Primärversorgungszentren ohne Änderungen eingeführt werden. Hundstorfers SPÖ- und Gewerkschaftskollegin Sabine Oberhauser war befremdet über die Drohung noch vor Verhandlungsstart. Sie sei aber „nicht beunruhigt“, alles sei verhandelbar: „Die Ärztekammer wird sich hoffentlich zu uns an den Tisch setzen.“ Am Konfliktpunkt – der Möglichkeit, neben Gesamtverträgen zwischen Kassen und Kammer Einzelverträge mit den Ärzten im Gesetz zu verankern – hält sie aber fest, um Flexibilität wegen der regional sehr unterschiedlichen Situationen zu erlauben. Für die Ärztekammer ist das „ungefähr so, als würde man in der Automobil- oder Baubranche vom Kollektivvertrag abweichen und diesen durch Direktvereinbarungen in den einzelnen Unternehmen ersetzen“.

1 Was bedeutet ein vertragsloser Zustand für die Patienten?

Sollten die Landesärztekammern tatsächlich alle Gesamtverträge mit den Gebietskrankenkassen auflösen, käme es frühestens in etwa einem Jahr zu einem vertragslosen Zustand. Möglich ist eine einseitige Kündigung nämlich erst zu Jahresende. Dann beginnt ein mehrmonatiger Fristenlauf inklusive Einschaltung der Bundesschiedskommission, was rund ein halbes Jahr dauern würde. Patienten müssten bei einem vertragslosen Zustand für die Behandlung beim niedergelassenen Allgemeinmediziner oder Facharzt bar bezahlen und könnten sich einen Teil davon (maximal 80 Prozent, unterscheidet sich sehr stark je nach Behandlung) bei der Kasse zurückholen. In Wien haben von den rund 5500niedergelassenen Ärzten 1800 einen Vertrag mit der Gebietskrankenkasse.

2 Worin besteht der Unterschied zwischen dem Hausarzt und der neuen Primärversorgung?

In den Primärversorgungszentren arbeiten Allgemeinmediziner mit Pflegern und Therapeuten zusammen. Das soll wesentlich längere Öffnungszeiten ermöglichen. In den Primärversorgungszentren sollen Ärzte den Patienten ganztägig zur Verfügung stehen und damit die Ambulanzen entlasten. Dafür können neue Zentren errichtet oder bestehende Einrichtungen (in Wien gibt es rund hundert Gruppenpraxen) vernetzt werden. Die Primärversorgungszentren sollen zusätzlich zu den bestehenden Hausärzten kommen, Eingriffe in laufende Verträge sind nicht geplant. Einen Zwang zum Umsteigen gibt es nicht.

3 Warum erfolgt der Aufstand der Ärztevertreter ausgerechnet jetzt?

Das Klima zwischen Ärztekammer und rot-schwarzer Regierung ist seit Längerem angespannt. Die niedergelassenen Ärzte wollen dieses Mal schon im Vorfeld verhindern, dass ein neues Gesetz ohne ihren Sanktus beschlossen wird. Stichworte für die vergiftete Atmosphäre sind Arbeitszeitkonflikt in den Spitälern sowie neue Vorschriften im Kampf gegen Sozialbetrug (siehe Frage 4)

4 Welche Konflikte gab es zuletzt zwischen Ärztevertretern und Politik?

Der jüngste Anlass dafür war, dass SPÖ und ÖVP vor der Sommerpause des Parlaments im Zuge eines Pakets gegen Sozialbetrug Verschärfungen beschlossen haben, die vor allem auch die niedergelassenen Ärzte betreffen. Da gehört das Mystery Shopping bei Ärzten dazu, etwa um falsche Krankschreibungen aufzudecken, was von den Ärzten unter Protest entrüstet als Generalverdacht abgelehnt wird. Die Verschärfung sieht auch strengere Kontrollen von E-Cards vor. Dazu kamen erbitterte Kämpfe um die Bezahlung von Spitalsärzten nach der Neuregelung der Arbeitszeiten, weil seit 2015 zur Einhaltung der EU-Richtlinien Obergrenzen nicht überschritten werden dürfen. Das Epizentrum dieses Konflikts war in Wien.

5 Wie geht es nach dem öffentlichen Aufschrei nun weiter?

Gesundheitsministerin Oberhauser wird vorerst einen Gesetzesentwurf für die Primärversorgungszentren fertigstellen, denn bisher sind nur die Eckpunkte der Neuerungen bekannt. Dann wird mit den Ärztevertretern verhandelt. Für die bereits tätigen Hausärzte mit Kassenvertrag sind laut Ministerin keine Änderungen vorgesehen. Bis Ende dieses Jahres strebt Oberhauser eine Einigung an.

6 Wie verlaufen die Fronten in der Auseinandersetzung um die Primärversorgung?

In der ÖVP steht Gesundheitssprecher Erwin Rasinger, der in Wien niedergelassener Arzt ist, auf Seiten der Ärztekammer. Vizekanzler ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner hat sich noch nicht festgelegt. Die Primärversorgung ist aber fixer Teil der zwischen Gesundheit- und Finanzministerium sowie den Bundesländern vereinbarten Gesundheitsreform. Der Hauptverband der Sozialversicherungen und die Krankenkassen wie jene in Wien und Niederösterreich stehen hinter dem Plan der Gesundheitsministerin. Die FPÖ und das Team Stronach sind aufseiten der Ärzte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2015)

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