Analyse: Die Ohnmacht der Angela Merkel

Merkel kann nicht mehr zurück. Sie muss bei ihrem Mantra in der Flüchtlingskrise bleiben: „Wir schaffen das.“
Merkel kann nicht mehr zurück. Sie muss bei ihrem Mantra in der Flüchtlingskrise bleiben: „Wir schaffen das.“(c) APA/EPA/MICHAEL KAPPELER (MICHAEL KAPPELER)
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Die deutsche Kanzlerin gesteht ihren Kontrollverlust in radikaler Ehrlichkeit ein und bezeichnet einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge als unmöglich. Die Krise wird damit auch für sie zur Schicksalsfrage.

So allein, so stark und so verletzlich zugleich ist Angela Merkel in ihren zehn Jahren an der Macht nicht gewesen. Die deutsche Bundeskanzlerin befindet sich an einem Wendepunkt. Sie hat vieles gemeistert, Konkurrenten wie Gerhard Schröder aus dem Feld geschlagen, drei Bundestagswahlen gewonnen, Dutzende Krisentreffen zu Euro und Griechenland ausgesessen. Doch ihr Schicksal und ihr Vermächtnis sind spätestens seit diesem Fernsehinterview mit der Flüchtlingskrise verknüpft. Derart entwaffnend offen wie im Gespräch mit der ARD-Journalistin Anne Will haben die Deutschen ihre Regierungschefin noch nie erlebt.

Bayerische CSU-Granden, SPD-Koalitionspartner, CDU-Parteifreunde, ja, sogar der pastorale Bundespräsident, sie alle haben in unterschiedlicher Lautstärke darauf hingewiesen, dass Deutschlands Aufnahmefähigkeit bald erschöpft ist. Sie alle haben nach der chaotischen Ankunft von mehr als 200.000 Flüchtlingen allein im September auf ein Signal der Bundeskanzlerin gehofft. Doch Angela Merkel bleibt bei ihrem Mantra. „Wir schaffen das“, hat sie im Fernsehen vor Millionen Deutschen wiederholt.

Zur Zuversicht verdammt

Aus ihr sprechen nicht nur der Trotz einer langjährigen Chefin und die Überzeugung einer protestantischen Christin, die nun im TV-Studio sitzt und nicht anders kann. Angela Merkel hat das Problem durchdacht und ist zu einem Schluss gekommen: Die Flüchtlingsmassen lassen sich ohnehin nicht aufhalten. Die mächtigste Frau der Welt gesteht ihre Ohnmacht ein. „Wir können die Grenzen nicht schließen.“ Die Nutzlosigkeit von Zäunen sei in Ungarn zu besichtigen, Flüchtlinge würden dann andere Wege suchen, über die grüne Grenze. „Es gibt keinen Aufnahmestopp“, sagt sie.

Das sind erleichternde Klarstellungen für Österreich, das zum Auffangbecken für gestrandete Flüchtlinge würde, sobald Deutschland die Rollbalken herunterließe. Doch deutsche Bürger müssen sich auf einen weiteren Andrang gefasst machen. „Kein Aufnahmestopp“ – das könnten abermals unzählige Fluchtbereite als Einladung verstehen. Wie schon die Ankündigung im Sommer, dass Deutschland die Dublin-Regeln für Syrer vorübergehend außer Kraft setze. Das Wort „vorübergehend“ ging damals sofort und für immer unter im Flüchtlingsstrom.

Doch Merkel ist zur Zuversicht verdammt. Wenn sie jetzt umkehrt, wenn sie jetzt ein Zeichen setzt und etwa die Grenzen zu Österreich schließt, hat sie ihre letzte Karte ausgespielt. Was macht sie dann, wenn die Flüchtlinge trotzdem kommen? In diesem Dilemma ist die Kanzlerin gefangen. Für sie gibt es kein Zurück. Doch es geht nicht nur um sie, es geht auch um Deutschland.

Schafft Deutschland das wirklich?

In ihrem Selbstverständnis bleibt Merkel Pragmatikerin, die eine unumstößliche Realität anerkennt: den ihrer Ansicht nach momentan unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom. Doch in dieser Krise ist ihre Haltung von Idealismus geprägt, nicht von kalter Macht- und Interessenpolitik. Denn in deutschem Interesse kann es bald nicht mehr sein, sich durch die Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge zu überfordern. Merkel jedoch sieht nicht die Masse, sie sieht den einzelnen Flüchtling. Niemand kann ihr mehr einen Mangel an Mitgefühl vorwerfen wie damals im Sommer, als sie ein Flüchtlingsmädchen zum Weinen brachte, dem sie erklärte, dass nicht alle bleiben können. Und noch eines ist ihr wichtig: welches Bild Deutschland in der Welt abgibt. Es soll ein möglichst freundliches sein. Sie werde sich jedenfalls an keinem Wettbewerb beteiligen, wer am unfreundlichsten zu Flüchtlingen ist, sagt sie. Doch sollen Imagefragen Maßstab der Politik sein?

Wie viele Flüchtlinge bisher nach Deutschland gekommen sind, wie viele bis Ende des Jahres noch kommen, kann die Kanzlerin nicht sagen. 800.000? 1,5 Millionen? Merkel weiß es nicht. „Sehr, sehr viele“, meint sie lediglich. Die Regierungschefin eines Landes, das berüchtigt ist für seinen Ordnungssinn, bemüht sich gar nicht erst, ihren Kontrollverlust zu verheimlichen. „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele Flüchtlinge kommen.“ Ihre Ehrlichkeit ist radikal.

Revolution in deutscher Außenpolitik

Und hat sie einen Plan? Schon: Merkel will an die Wurzeln gehen oder zumindest in deren Nähe. Sie hofft auf die Türkei, auf bessere Grenzsicherung in der Ägäis. Ihr Ziel ist es, die Flüchtlinge in der Region zu halten. Deshalb sollen Millionen Euro in türkische Lager fließen. Und Flüchtlinge, die es an der Küstenwache vorbei schaffen, möchte Merkel in griechischen und italienischen Hotspots sammeln und auf ganz Europa aufteilen. Das alles werde dauern, warnt sie. Nur ja nicht zu viel versprechen – das ist ihr Leitmotiv.

Merkel ist sich der historischen Dimension bewusst. Sie bezeichnet die Flüchtlingskrise als größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung. Sie ahnt die verändernden Kräfte, die nun auf ihr Land wirken. Und sie hat sich bereits für eine aktivere außenpolitische Rolle Deutschlands im Nahen Osten entschieden. Die Zeiten, in denen sie geglaubt habe, Syrien, Afghanistan oder der Irak seien weit weg, seien vorbei. „Diese Konflikte sind Teil unserer Innenpolitik geworden.“

In dieser Krise übernimmt Merkel die volle Verantwortung. Die Flüchtlingsagenden hat sie nun bei sich im Kanzleramt gebündelt, nicht mehr bei ihrem Innenminister. Merkel duckt sich nicht weg. Sie führt. Doch weiß sie auch, wohin? Wenn ihre Türkei-Strategie und die Hotspots nicht funktionieren und weiterhin hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland drängen, wird die Luft für Merkel im Kanzleramt dünn. Sie setzt in dieser Krise fast ihr gesamtes politisches Kapital ein.

AUF EINEN BLICK

Angela Merkel legte im ARD-Interview mit Anne Will die Grundzüge ihrer Flüchtlingspolitik offen. Trotz zahlreicher Zurufe aus allen Parteien, auch der eigenen, lehnt sie einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge ab. Deutschland könne seine 3600 Kilometer lange Grenze nicht umzäunen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2015)

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