Sonja Wehsely: „Sachleistungen wirken besser“

Sonja Wehsely
Sonja Wehsely Die Presse
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Reizthema Mindestsicherung: Die Wiener Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) ist in vielen Punkten gar nicht so weit weg von der ÖVP: Auch über eine 1500-Euro-Obergrenze für Familien könne man diskutieren, meint sie.

Die Presse: In Wien gibt es immer mehr Menschen, die Mindestsicherung beziehen. 2010 waren es 106.000, im Vorjahr 160.000. Ist die Steigerung quasi ein Naturgesetz?

Sonja Wehsely: Nein. Das ist immer noch eine Folge der Wirtschaftskrise, die 2008 begonnen hat. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist schlecht. 90 Prozent der Bezieher bekommen die Mindestsicherung ja nur zusätzlich, weil das Einkommen oder das Arbeitslosengeld nicht reicht.

Die Krise hat nicht nur Wien betroffen, trotzdem gibt es hier besonders viele Bezieher.

Ich finde alle, die einen Anspruch haben, sollen das Geld bekommen. Das ist aber nicht in allen Bundesländern so. Manche haben deshalb geringere Zahlen, weil die Mindestsicherung so organisiert wird, dass die Menschen nicht zu ihrer Leistung kommen. Man baut Hürden ein.

Aber denkt nicht die Politik, auch die SPÖ, gerade genau darüber nach? Wie man den Zustrom einbremst?

Als Sozialdemokratin kann ich den Anstieg natürlich nicht gut finden, weil ich glaube, dass die Mindestsicherung für den Großteil der Bezieher keine gute Lebensperspektive ist. Vor allem für die Jungen.

Sie haben heuer auch für die 15- bis 18-Jährigen Bezieher der Mindestsicherung Sanktionen eingeführt. Wenn sie z. B. mit dem Arbeitsamt nicht kooperieren, wird gekürzt. Warum hat man das erst jetzt gemacht?

Weil das rechtlich nicht einfach war. Den Antrag stellen nicht die Jugendlichen, sondern die Eltern. In Summe geht es um etwa 2000 15- bis 18-Jährige, die weder in der Schule noch beim AMS gemeldet sind.

Bei Jugendlichen wollen Sie den Fokus auf Sachleistungen legen. Was heißt das genau?

Wenn ich etwa in einer Ausbildungsmaßnahme bin und dort verköstigt werde, könnte das angerechnet werden. In der Hauptsache geht es mir aber um ein Gegenleistungsprinzip. Statt die Mindestsicherung einfach zu beziehen, sollen die Jugendlichen Ausbildung- oder Beschäftigungsangebote bekommen, in deren Rahmen sie etwas leisten. Um einen Anreiz zu setzen, gibt es dann Geld. Gleichzeitig verlieren sie deshalb aber nicht die ganze Mindestsicherung – das ist eine Art Kombilohn.

Denken Sie punkto Motivation so wie Staatssekretär Mahrer über Nudging nach, also psychologische Anreize?

Ich finde das super. Es spricht nichts dagegen, darüber nachzudenken.

Die ÖVP will künftig überhaupt mehr auf Sachleistungen setzen. Wie ist Ihr Verhältnis dazu?

Ich bin – Ausnahmen bestätigen die Regel – immer für die Sach- statt der Geldleistungen. Sie wirken besser, weil sie zielgerichteter sind. Hier geht es um Menschen, die oft nicht nur finanziell arm sind, sondern auch unter Bildungsarmut leiden und ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Wenn sie das auch mithilfe von Sozialarbeit nicht schaffen, wenn sie ihre Heizung nicht bezahlen, ist es sinnvoller, etwa Rechnungen direkt zu bezahlen und ihnen nur einen Teil des Geldes zu geben. Wenn die Miete nicht regelmäßig bezahlt wird, kann in Wien direkt an den Vermieter überwiesen werden.

Das heißt, Sie finden das niederösterreichische Regime gut, das bereits mehr Sachleistungen inkludiert?

Direktzahlungen an den Stromanbieter finde ich gut. Aber nicht als generelle Maßnahme, so wie das die ÖVP künftig will, sondern eben nur dann, wenn im Einzelfall Bedarf besteht. Bei Gutscheinen bin ich skeptisch. Das wirkt stigmatisierend.

Im Unterschied zur Familienpolitik hat die Bundes-SPÖ in der Sozialpolitik mit Sachleistungen ein Problem. Woher kommt das?

Stimmt, das ist widersprüchlich. Allerdings ist auch der Sozialminister inzwischen für Sachleistungen im Einzelfall.

Die ÖVP hat ja mehrere Vorschläge zur Reform der Mindestsicherung gemacht. Einer lautet: eine 1500-Euro-Obergrenze für Mehrpersonenhaushalte.

Das sehe ich kritisch, aber auch darüber kann man diskutieren.

Sie scheinen gar nicht so weit weg von der ÖVP: Sie beide sind etwa auch für Kombilöhne.

Ja, aber man muss hier aufpassen, dass bei Unternehmen kein Anspruchsdenken entsteht: Sonst stellen die Firmen Leute nur mehr ein, wenn der Staat dazuzahlt. So lange es keine bessere Lösung gibt, halte ich es für gut, das auszuprobieren.

Verstehen Sie, wenn sich Leute darüber aufregen, dass der Abstand zwischen Mindestsicherung und dem, was man verdient, wenn man wenig verdient, zu klein ist?

Nur weil die Löhne niedrig sind, kann ich nicht das Existenzminimum reduzieren. Soll ich sagen: Ihr müsst es mit 600 Euro schaffen, damit der Abstand passt? In Wahrheit müssten wir jetzt über die Lohnentwicklung diskutieren.

Bleiben wir im Sozialbereich und kommen zu etwas, das auch oft diskutiert wird: Missbrauch. Wie oft wird der bei der Mindestsicherung sanktioniert?

2014 gab es 6200 Sanktionen. Es geht also nicht bloß um Einzelfälle.

Wären Sie dafür, dass man strenger prüft und sich – wie die Steuer – Sparbücher ansieht?

Bei begründetem Verdacht geht das schon, als stichprobenartige Überprüfung hat es wenig Sinn. Ich bin sehr für Kontrolle, aber der Aufwand muss sich lohnen.

Apropos Aufwand: Sie selbst haben gesagt, dass 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge nach Wien kommen. Da nicht alle gleich einen Job finden werden, werden sie Mindestsicherung beziehen. Wie viel wird das kosten?

Ehrlich: Man weiß es nicht. Wie lange jemand Mindestsicherung bezieht, hängt von der Ausbildung ab. Wir wissen auch noch nicht, wie sich die Traumatisierungen auswirken. Vor denen ist auch ein Diplomingenieur nicht gefeit.

Können Sie dem Sebastian-Kurz-Vorschlag etwas abgewinnen, dass man bei den Flüchtlingen unter den Mindestsicherungsbeziehern auf Sachleistungen setzen soll, weil sie Geld nach Hause überweisen?

Es gilt dasselbe wie vorher: Nur, wenn jemand sein Leben nicht organisieren kann, ist das sinnvoll.

Die Wiener SPÖ hat in der Frage Asyl auf Zeit die Bundesregierung kritisiert. Wie hat denn die Bundes-SPÖ reagiert?

Damit, dass das Gesetz ja erst in Begutachtung sei. Schauen wir einmal, ob das so kommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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