Jeder Zaun findet einen listigen Zaunkönig als Überflieger

Ein Ding, das zum Großteil aus Luft besteht, wird doch kaum abschreckende Wirkung haben. Nicht einmal ein Limes kann das dauerhaft.

Bald werden es die wichtigsten unserer heimischen Politiker in seltener Einigkeit schaffen, den Zaun zum Unwort des Jahres zu machen. Im Vorjahr ging diese unrühmliche Auszeichnung an das Wort Negerkonglomerat. Dessen Nachfolge hat der Zaun wahrlich nicht verdient, denn er ist, seinem derzeitigen politischen Gebrauch zum Trotz, relativ harmlos. Wie der Zaungast. Der schaut nur zu, ohne wirklich teilnehmen zu dürfen. Man findet den Zaun im Wortfeld des Gartens, aus dem Gotischen ist die Verbindung zu Faden abzuleiten.

Ein Zaun hat eher eine symbolische als eine abschreckende Wirkung, jedes Nachbarskind, das seinen Fußball wieder haben will, kann ihn überwinden. Selbst für militante Versionen genügt eine geeignete Schere – derzeit sind solche Geräte in Supermärkten in vielen grenznahen Regionen unseres Kontinents der Renner.

Der passende Vogel zu dem Ding ist der Zaunkönig. Seit Urzeiten rühmt ihn die Fabel für seine Listigkeit. Aristoteles erwähnt ihn in seiner Tierkunde. Dieser Vogel schaffte es trickreich, höher zu fliegen als sogar der Adler. Im Norden bezeichnet man den Zaunkönig als Nessel- und Schneekönig, weil dieser Troglodyt es geschickt versteht, durch das Gestrüpp zu schlüpfen, und ihn auch der Winter nicht vom optimistischen Gezwitscher abhält. 2012 wurde der Zaunkönig zum Vogel des Jahres gewählt. Dieses wunderbare Geschöpf sollte allen, denen es an Flexibilität mangelt, auch im Wendejahr 2015 ein Vorbild sein. Er kennt die Welt, ist in Europa, Nordafrika, Asien und Nordamerika zu Hause. Ein Kosmopolit.

Warum aber, so fragen sich die Hortikulturisten und Ornithologen im Gegengift, haben sich unsere grenzwertig grenzwachenden Minister in solch heiklen Angelegenheiten, die an die Souveränität rühren, der luftigen Metapher des Zauns bedient? Wir wagen zu behaupten: gerade deshalb, weil ein Gespinst, das vor allem aus Luft besteht, so harmlos wirkt. Denn würde mit dem Abgrenzen mitten in Europa tatsächlich ernst gemacht, dann müssten härtere Materialien genannt werden. Man kennt totale Abwehr aus der jüngeren wie älteren Geschichte. Sogar zu Todeszonen werden Grenzen immer wieder gemacht.

Gehen wir weit zurück: Wie haben sich die Römer, diese euphemistischen Großmeister der Einfriedung und Befriedung, abgegrenzt? Natürlich nicht mit Maschendraht, sondern mit Gewalt – und an neuralgischen Punkten mit Mauern. Sehr viele Orte nahe den unruhigen Grenzen des Imperium Romanum an der Donau tragen heute noch das Wort in sich. Die Mauern versprachen für eine Weile Stabilität gegen Angriffe aus dem Norden und Osten. Vom Kastell Klosterneuburg bis zum Kastell Beograd bestand bis ins 5. Jahrhundert der Pannonische Limes – allein diese defensive Linie war gut 400 Kilometer lang.

Das Wort Limes aber bedeutete ursprünglich nicht Grenze, sondern Querweg oder Schneise. Irgendwie mussten die Römer doch ihre Truppen in jene Gebiete bringen, die sie sich zuvor angeeignet hatten. Für die Abwehr feindlicher Heere waren solche Anlagen eher nicht geeignet, sie dienten vor allem der Kontrolle von Gütern und Personen sowie der Kommunikation. Wo immer die Römer hinkamen, präsentierten sie ihr Feldzeichen: Aquila. Das ist jener Vogel, der vom Zaunkönig besiegt wurde.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2015)

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