Warum wir das Gefühl haben, dass es uns immer schlechter geht

Die Lebensmittelkette Zielpunkt ging mangels Innovationskraft pleite. Ihr Niedergang spiegelt viele Strukturprobleme unserer Gesellschaft wider.

Wieder ein Beweis dafür, dass alles schlechter wird. Dass wir wirtschaftlich „absandeln“. Jetzt hat es die Supermarktkette Zielpunkt erwischt. 2500 Beschäftigte werden arbeitslos. Viele davon werden es schwer haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen.

Und wer ist schuld daran? Die Politik? Der Kapitalismus? Beide zusammen?

Wenn man schon von Schuld sprechen muss, dann ist es in erster Linie die Schuld der verantwortlichen Manager. In Wahrheit ist hier ein Unternehmen gescheitert, das nicht konkurrenzfähig war. „Mir tun ja die Mitarbeiter leid, aber der Zielpunkt war einfach ein hundsmiserabler Supermarkt.“ Dieser Satz – aufgeschnappt in der U-Bahn – bringt das Dilemma auf den Punkt. Hier hat ein Unternehmen die Überfuhr versäumt. Und der Strukturwandel im Lebensmittelhandel hat noch gar nicht richtig begonnen. Die Verknüpfung von Online- und Filialgeschäft ist bei Weitem noch nicht so weit fortgeschritten wie bei den Banken, im Buchhandel, in der Reisebranche und vielen anderen Geschäftsfeldern.

Nur: Es verändert sich auf dieser Welt viel zu viel auf einmal. Wir erleben die Wirtschaft und Gesellschaft wie in einem Karussell. Alles dreht sich. Von jedem Einzelnen wird mehr Bereitschaft zur Veränderung, mehr Flexibilität erwartet. Jeder soll, muss sich neu erfinden. Anders gehe es nicht mehr, heißt es. Das hören wir täglich in den Talkshows. Und das erzeugt Verunsicherung, ja Angst. Angst vor dem Verlust des Wohlstands, Angst vor dem Verlust der Identität, vor dem Verlust der eigenen Wertewelt.

In diesem Klima der Verunsicherung gibt es aber nicht nur Verlierer. Da gibt es auch jene, die glänzende Geschäfte machen. Die politischen und ökonomischen Demagogen nämlich. Jene, die einfache Lösungen anbieten und Sündenböcke präsentieren. Sie sind auf Expansionskurs. Da klingelt die Kassa.

Schutzgelddemokratie hat es der Buchautor und Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter einst genannt. Staat und Politiker erhalten und verwalten tunlichst den Status quo. Koste es, was es wolle. Was dabei herauskommt, hat man bei der sogenannten Bankenrettung eindrucksvoll gesehen. Sieht man beim Pensions- und Bildungssystem, wenn man will. (Und in spätestens zehn Jahren auch dann, wenn man nicht will.)

Für diese Schutzgelddemokratie stehen nicht zuletzt auch die Sozialpartner. Gerade im Handel kann man ein Lied davon singen. Dort streiten Gewerkschaft und Wirtschaftskammer noch immer über die Sonntagsöffnung, während der Rest der Welt längst bei Amazon einkauft – und zwar rund um die Uhr. Fast schon verwunderlich, dass es in Österreich nicht ein Online-Ladenschlussgesetz gibt, das den Onlinehandel nach 20 Uhr und an Sonn- und Feiertagen verbietet. Wir halten vielerorts noch an Dingen fest, die uns doch ohnedies längst entglitten sind.


Viele haben deshalb auch das Gefühl, dass es immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer gibt. Die globalisierte, digitalisierte Wirtschaft entwickle eine „The winner takes it all“-Dynamik, meint auch der Wiener Wirtschaftsprofessor Werner Hoffmann. Der Markt kollabiert mangels Wettbewerbs. Am Ende bleiben nur noch Amazon und Alibaba, Apple, Google und Facebook übrig.

Trügt dieses Gefühl? Wenn man sich verschiedene Wirtschaftsdaten ansieht, kommen wir zu dem Ergebnis, dass auf dieser Welt der Wohlstand zugenommen hat. Und wenn wir wollen, dann finden wir natürlich auch genügend Daten, die uns das Gegenteil beweisen: dass die Schere zwischen Arm und Reich aufgeht. Letzteres hören wir lieber. Weil es unserem Gefühl entspricht. In einer Welt, in der wir täglich mit Mord, Terror und Flucht medial konfrontiert sind. Mit Firmenpleiten. Und ab nächster Woche mit der Klimakatastrophe. In dieser Welt brauchen wir einfache und vor allem bequeme Lösungen.

Und am bequemsten ist es nun einmal, an „wohlerworbenen“ Besitzrechten, an der Schutzgelddemokratie festzuhalten. An Dingen also, die uns in Wahrheit schon längst entglitten sind.

E-Mails an: gerhard.hofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Innenpolitik

Studie: Pensionsreformen wirken langsam – zu langsam

Laut OECD stieg das Pensionsantrittsalter in Österreich in den vergangenen Jahren zwar an. Dieser Anstieg wurde jedoch von der höheren Lebenserwartung wieder kompensiert. Die Ausgaben für den Staat erhöhen sich daher.
Pensionen: Kommissionschef für Abschaffung der Kommission
Politik

Pensionen: Kommissionschef für Abschaffung der Kommission

"Das Gremium ist zur politischen Spielwiese verkommen", kritisiert Verfassungsrichter Müller.
MINISTERRAT: HUNDSTORFER
Österreich

Pensionskommission wird reformiert

Nach dem politischen Hickhack um die Mittelfristprognose wird die Pensionskommission neu aufgestellt. Die ÖVP will „mehr Ehrlichkeit“ in den Gutachten.
Pensionen: Hundstorfer lehnt neuen Bericht ab
Politik

Pensionen: Hundstorfer schließt neuen Bericht aus

Die Mittelfristprognose der Pensionskommission wurde durch die Mehrheit ihrer Mitglieder abgelehnt. Minister Hundstorfer weist den Vorwurf der "Schönfärberei" zurück.
Österreich

„Gefärbt“: Eklat um Pensionsbericht

Ein Expertenbericht zeichnete ein zwiespältiges Bild über die Entwicklung der Pensionen. Die Mehrheit der Kommission fand die Prognose „politisch gefärbt“ und lehnte sie ab.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.