Heroin - die neue alte Droge der weißen Mittelschicht

(c) REUTERS (KHAM)
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Die grassierende Drogenepidemie in den USA treibt die Todesraten junger weißer Amerikaner auf Rekordhöhen.

Jen wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine Heroinsüchtige, und auch auf den zweiten merkt man nicht, dass sie im Zuge einer Ersatztherapie Methadon nimmt. Die 28-Jährige ist aufgeschlossen, ihre Antworten sind überlegt und nüchtern. Man würde nicht vermuten, dass sie vor einem Jahr eine Überdosis erwischte. Und man ist erstaunt, nach dem Gespräch zu erfahren, dass sie bei ihrem ersten Aufenthalt in der Entzugsanstalt Keystone Hall in der Stadt Nashua im US-Teilstaat New Hampshire verbotenerweise Heroin in ihr Zimmer zu schmuggeln versuchte, indem sie es unter ihrem Baby versteckte. „Wenn man süchtig ist, überschreitet man Grenzen, wie man es vorher nie für möglich gehalten hätte“, sagt Jen, mit ihrem vierten Kind im fünften Monat schwanger, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

Dann erzählt sie, wie sie zur Heroinsüchtigen wurde, und es ist eine Geschichte, die man auf ähnliche Weise nicht nur in Neuengland, sondern auch im Mittleren Westen und in den Südstaaten hören könnte. Jens Drogenalbtraum begann vor fünf Jahren nach der Geburt ihrer ersten Tochter. „Mir wurde ein Zahn gezogen, dann hatte ich chronische Rückenschmerzen. So bekam ich Percocet verschrieben.“ Das ist ein Schmerzmittel, welches das starke Opioid Oxycodon enthält. Opioide machen, wenn man nicht achtgibt, sehr schnell körperlich abhängig – vor allem dann, wenn die ärztliche Aufsicht versagt. So wie es bei Jen der Fall war: „Mich hat damals niemand vor den Folgen gewarnt.“

Einige Jahre lang steigerte sie die Oxycodon-Dosen, doch die Pillen sind teuer. Ein Dollar pro Milligramm beträgt der Preis auf dem Schwarzmarkt. Das klingt nach wenig, doch Süchtige brauchen rasch einzelne Dosen von 30 Milligramm und mehr. Manche Opioid-Abhängigen verpulvern täglich bis zu 1000 Dollar. So viel Geld hatte Jen nicht. Also stieg sie vor eineinhalb Jahren auf Heroin um, denn das kostet nur ein Fünftel des Straßenpreises von Oxycodon. Es folgte das Übliche: Vorstrafe, Arbeitslosigkeit. Dabei kommt Jen aus einer guten Familie. „Ich hatte eine recht gute Kindheit, mit Ballettunterricht und Klavierstunden. Mein Vater sagte mir, dass wir eine Familiengeschichte von Alkoholismus haben. Also habe ich stets darauf geachtet, nur ja keinen Alkohol zu trinken.“

Hillbilly-Heroin. Der eitrige Weisheitszahn, der wehe Rücken, die Sportverletzung: Es ist in den USA erstaunlich einfach, vom Hausarzt ein Schmerzmittel mit dem Suchtpotenzial von Heroin verschrieben zu bekommen. Die Statistik zeichnet ein krasses Bild: im Jahr 1993 genehmigte die Drug Enforcement Administration (das ist die für die Strafverfolgung von Drogendelikten zuständige Bundesbehörde) den US-Pharmakonzernen die Herstellung von 3,52 Tonnen Oxycodon. 2015 waren es 141,375 Tonnen: ein Anstieg um das Vierzigfache.

Das allgemeine Schmerzempfinden der Gesellschaft dürfte kaum in diesem Ausmaß gestiegen sein, ein Großteil des rezeptpflichtigen Opioids landet wohl auf dem Schwarzmarkt. Viele Ärzte sind in Fragen der Schmerztherapie mangelhaft ausgebildet und verschreiben ihren Patienten sicherheitshalber eher zu viele Pillen als zu wenige. Andere handeln kriminell. American Pain, eine Schmerzklinik in Florida, verdiente mit dem betrügerischen Ausstellen von Rezepten an Drogenabhängige in den Jahren 2008 bis 2010 mehr als 40 Millionen Dollar. 90 Prozent der Pillen gingen an Süchtige aus anderen US-Staaten, allen voran Kentucky und West Virginia. Erst als dort die tödlichen Überdosen rasant stiegen, macht das FBI dem Spuk ein Ende.

„Hillbilly-Heroin“ wird Oxycodon scherzhaft genannt. Doch zum Scherzen ist Polizeikräften und Gesundheitsbehörden nicht zumute. Denn das Phänomen von rezeptpflichtigen, teuren Schmerzmitteln, die den Einstieg ins billigere Heroin eröffnen, ist zu einer gesundheitspolitischen Krise geworden. Vergangene Woche veröffentlichte die „New York Times“ eine alarmierende Analyse von Statistiken über Heroinsucht und Drogentodesfälle: Die heutige Generation von 25- bis 34-jährigen weißen Amerikanern ist seit dem Vietnamkrieg die erste, die höhere Sterberaten aufweist als ihre Vorgängergeneration. „Der jetzige Trend gleicht jenem der HIV-Epidemie in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren“, sagte Robert Anderson, Leiter der Abteilung für Sterblichkeitsstatistiken in den Centers for Disease Control, einer US-Gesundheitsbehörde, zur „Times“.

Die Zahlen sind erschütternd: Unter jungen Weißen ist die Rate der tödlichen Vergiftungen (das sind fast ausschließlich Suchtgiftvorfälle) von 1999 bis 2014 von sechs auf 30 Fälle pro 100.000 Personen gestiegen. 25- bis 34-Jährige sterben heute fünfmal so häufig an Überdosen (einschließlich jener von Schmerzmitteln) wie im Jahr 1999, bei den 35- bis 44-Jährigen stieg diese Todesrate um das Dreifache.

Um diese Zahlen besser zu verstehen: Laut dem „Epidemiologiebericht Drogen 2015“ des Gesundheitsministeriums in Wien gab es in Österreich im Jahr 2014 85 Todesfälle, bei denen Heroin oder ein anderes Opioid im Spiel war. Das sind umgerechnet rund 1,46 Todesfälle pro 100.000 Personen zwischen 15 und 64 Jahren.


Weiße Opfer, neuer Diskurs. Bemerkenswerterweise sind die drogenbedingten Sterberaten schwarzer und hispanischer junger Amerikaner im selben Zeitraum gesunken. Das ist eine paradoxe Folge des unausgesprochenen Rassismus, der die Verschreibungspraxis vieler amerikanischer Ärzte zu lenken scheint: Studien zeigen, dass sie Schwarzen und Latinos weniger Schmerzmittel verordnen, weil sie ihnen insgeheim unterstellen, diese Rezepte an Drogensüchtige zu verkaufen.

So ist die Heroinsucht in Amerika erstmals zu einem weißen, ländlichen Problem geworden – mit erschreckenden Folgen. Die Kleinstadt Austin im Teilstaat Indiana erlangte vergangenen Sommer traurige Berühmtheit, als die Zahl der HIV-Ansteckungen binnen Kürze auf mehr als 150 stieg – bei rund 4200 Einwohnern. Die örtlichen Heroinsüchtigen hatten infizierte Nadeln geteilt, die Krankheit hatte sich rasant ausgebreitet, und Austin hat nun einen höheren Anteil an HIV-Kranken als jedes afrikanische Land.

Stark grassiert die Heroinsucht auch im ländlichen New Hampshire. Bei rund 1,3 Millionen Einwohnern gab es im Jahr 2014 293 Drogentode, bei denen Opioide im Spiel waren – also fast viermal mehr als in Österreich, in dem sechsmal so viele Menschen leben wie in New Hampshire. 2015 dürfte es mehr als 500 Suchtmittelopfer gegeben haben, ein Abklingen ist nicht in Sicht. „Wir sehen seit einiger Zeit viele junge Leute Anfang, Mitte 20, die sagen: Ich war auf einer Party, und da wurden Schmerzmittel verteilt“, sagt Alex Hamel, die Leiterin der Entzugsanstalt Keystone Hall in Nashua. „In den Jahren 2010 bis 2015 ist die Verschreibung von Oxycodon durch die Decke geschossen.“ Hamel weiß aus eigener Erfahrung, wovon sie spricht: Ihrem Sohn wurde mit 16 nach einer Schulterverletzung, die er sich beim Ringen zugezogen hatte, Oxycodon verschrieben. Er verfiel dem Heroin und ist erst seit drei Jahren clean – nach sechs Jahren als Drogensüchtiger.

Der Umstand, dass Heroin zu einer Drogen weißer Jugendlicher aus ländlichen Gegenden geworden ist, hat den Diskurs über Sucht, Therapie und Strafe fundamental geändert. „Das Problem ist so groß, dass man es nicht mehr ignorieren kann“, sagt Hamel. „Denn jetzt werden auch ,normale‘ Kinder süchtig und kommen um. Es ist in unseren Familien. Man kann nicht mehr sagen: Das betrifft nur die anderen. Nein, das sind wir.“


Mexikos Kartelle liefern. Lieutenant Kevin Rourke ist mit dieser neuen Realität eng vertraut – nicht nur, weil er die Abteilung für Drogenkriminalität des Nashua Police Department leitet: „Jeder kennt jemanden, der betroffen ist. Mein eigener Cousin ist vor vier Monaten an einer Überdosis gestorben.“ Heroin, sagt er, sei früher eine schmutzige Droge der Unterschicht gewesen. Doch nicht mehr: „Heute ist es die am weitesten verbreitete Droge, 90 Prozent unserer Arbeit hat damit zu tun.“

Noch mehr Sorgen als Heroin oder oxycodonhaltige Schmerzmittel wie Percocet macht ihm allerdings Fentanyl. Dieses Opioid, das erlaubterweise in der Schmerztherapie für Tumorpatienten eingesetzt wird, ist bis zu 100 Mal stärker als Heroin und lässt sich billig herstellen. Seit etwa eineinhalb Jahren verschneiden die Dealer ihr Heroin immer öfter mit diesem Stoff. „Fentanyl ist ein echtes Problem. Das ist heute für den Großteil der Überdosen verantwortlich.“

Ermittlungsergebnisse mehrerer Polizeibehörden und der DEA haben gezeigt, dass Heroin und Fentanyl zu einem Großteil von Mexikos Drogenkartellen hergestellt und in die USA gebracht werden. Sie sind von Kokain auf die Opioide umgestiegen, über Städte wie Boston, Manchester oder Lawrence verteilen sie das Rauschgift, einschließlich Hauszustellung.

Ein Ende der Opioid-Epidemie ist nicht in Sicht. Chuck, ein Klient von Keystone Hall, der als Neunjähriger wegen Zahnschmerzen Morphium verschrieben bekam und damit eine seit 22 Jahren währende Karriere als Drogensüchtiger begann, gibt sich keinen Illusionen hin: „Bei den Jugendlichen sind Drogen die Norm geworden, sie sind überall – und wenn nicht, kann ich einfach zum Arzt gehen und sagen: Mein Zahn tut weh, mein Knie tut weh. Dann verschreibt er drei, vier Pillen, und die reichen, um mich dazu zu bringen, nach Massachusetts zu fahren und Heroin zu kaufen.“

Am Tag nach dem Gespräch mit der „Presse am Sonntag“ sollte er Keystone Hall verlassen, nach vier Wochen Entzug. „Ich würde Ihnen gern sagen, dass ich zum letzten Mal hier war“, erklärt Chuck. „Aber die Wahrheit ist: Ich fürchte mich zu Tode.“

Fakten

In Österreich gab es im Jahr 2014 85 Todesfälle, bei denen Heroin oder ein anderes Opioid im Spiel war. Das waren rund 1,46 Todesfälle pro 100.000 Personen zwischen 15 und 64 Jahren.

In den USA kamen im selben Jahr 15 Drogentote auf 100.000 Personen. Es starben dort also relativ betrachtet zehnmal mehr Menschen an Drogen, allen voran an Opioiden. Besonders schlimm ist die Lage bei jungen Weißen: Ihre drogenbedingte Todesrate stieg von 1999 bis 2014 von sechs auf 30 Opfer pro 100.000 Personen.

In Zahlen

5990Todesfälle in den USA
Opfer von Heroin und anderen Opioiden im Jahr 1999

29467Todesfälle in den USA
Opfer von Heroin und anderen Opioiden im Jahr 2014

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2016)

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