David Cameron muss hoffen, dass die Briten das Abkommen nicht zu genau studieren.
Brüssel. Es war kein guter Wochenauftakt für David Cameron: Der Beitritt von Boris Johnson zum Lager der Europagegner (siehe rechts) schickte das Pfund auf Talfahrt – dass der beliebte Londoner Bürgermeister für den Austritt Großbritanniens aus der EU werben will, erhöht nach Ansicht der Investoren die Chancen der Brexit-Befürworter. Nun liegt es am Premierminister, die Wähler davon zu überzeugen, dass sein Deal Großbritannien zum Vorteil gereicht. Paradoxerweise spielt die Reaktion der Finanzmärkte Cameron dabei in die Hände: Sie signalisiert nämlich, dass der Abschied von Europa keineswegs so schmerzlos sein dürfte, wie die EU-Gegner es erklären.
Dass Camerons Strategie auf der Angst vor einer unsicheren Zukunft basiert, ist aus zwei Gründen naheliegend: erstens, weil die Briten als pragmatisch gelten, und zweitens, weil das Brüsseler Verhandlungsergebnis nicht unbedingt das erbracht hat, was sie sich gewünscht hatten. Der britische Premier tut also gut daran, mit dem Argument, die Zeiten seien zu unsicher für einen britischen Alleingang, gegen den Brexit zu werben. Denn die „neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union“ ist vor allem kosmetischer Natur.
Von den vier Pfeilern, die Großbritanniens EU-Mitgliedschaft stützen sollen, kann man Nummer zwei – Wettbewerbsfähigkeit – gleich außer Acht lassen: dass alle Mitgliedstaaten lieber mehr als weniger wettbewerbsfähig sein wollen, ist nichts, was vertraglich festgehalten werden müsste.
Ähnlich verhält es sich mit der dritten Säule „Souveränität“. Den britischen Verhandlern ist es gelungen, im Abkommen einen Passus zu verankern, wonach alle Bezugnahmen auf die „immer engere Union der Völker Europas“ nicht für Großbritannien gelten. Allerdings war London auch bisher ein Outsider – und dass die EU angesichts der aktuellen Krisen einen großen Schritt Richtung Vereinigte Staaten von Europa unternimmt, glauben in Brüssel nicht einmal eingefleischte Föderalisten. Momentan geht es nicht darum, die Union immer enger zu machen, sondern zu verhindern, dass sie desintegriert. Konkreter ist hingegen der Passus, wonach 55 Prozent der nationalen Parlamente EU-Gesetzesvorhaben verhindern können – allerdings müsste London in diesem Fall mindestens 15 Verbündete finden, um dieses Kunststück zu vollbringen.
Was die erste Säule (wirtschaftspolitische Steuerung) anbelangt, steht der Praxistest noch aus. Einerseits steht nun schwarz auf weiß, dass etwaige Vorschriften hinsichtlich der Bankenunion nicht für die City of London gelten – zugleich aber ist davon die Rede, dass auf dem Binnenmarkt die gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle zu gelten haben. Cameron argumentiert nun, dass Großbritannien nie für etwaige Krisen der Eurozone wird haften müssen. Doch das war auch jetzt schon so – mit Ausnahme des EU-Rettungsfonds EFSM, der aber mit der Schaffung des Euro-Rettungsschirms ESM ohnehin obsolet geworden ist.
25 Millionen Pfund
Bleibt also die vierte Säule – Sozialleistungen und Freizügigkeit. Cameron hat es in der Tat geschafft, eine Reduktion der Kinderbeihilfen für EU-Ausländer, deren Kinder nicht in Großbritannien leben, zu erreichen. Eine große Entlastung für das britische Sozialsystem ist das allerdings nicht, dem Vernehmen nach geht es um eine jährliche Ersparnis von 25 Mio. Pfund. So viel gibt London für die Förderung von Elektroautos aus, rechneten britische Medien vor. Und was die Reduktion der Lohnergänzungsleistungen für EU-Ausländer anbelangt: Die Siebenjahresfrist, innerhalb der die (auf vier Jahre beschränkten) Kürzungen erfolgen dürfen, ist länger als von Osteuropäern gewünscht. Daran, dass die Arbeitsmigration nach Großbritannien deswegen unterbunden wird, glaubt so gut wie niemand. Cameron muss also darauf setzen, dass die britischen Wähler bis zum Referendum am 23. Juni nicht erkennen, dass der britische Arbeitsmarkt weiterhin attraktiv bleibt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2016)