Amsterdam: Leben im Dämmerlicht

ANNE-FRANK-WACHSFIGUR
ANNE-FRANK-WACHSFIGUR(c) APA/HELMUT FOHRINGER
  • Drucken

Am 3. März kommt ein neuer Film über Anne Frank in die Kinos. In Amsterdam trifft man vielerorts auf ihre Spuren. Am beklemmendsten ist das Haus, in dem sie sich mit sieben anderen Juden versteckte.

Das Haus ist verwinkelt und verwirrend, das Leben hier muss verstörend gewesen sein. Nur schwer findet man sich in den kleinen Räumen von Prinsengracht 263 zurecht, mit den steilen Stiegen und dem Dunkel, das auch tagsüber herrscht. Kaum zu glauben, dass auf diesen wenigen Quadratmetern vom 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 acht Menschen aufeinanderhockten und Launen und Gestank der anderen, Langeweile und Verzweiflung ertragen mussten.

Anne Frank, die 15 war, als die Gestapo das Versteck entdeckte und sie und die anderen in das Lager Westerbork abtransportierte, hat diese 671 Tage in ihrem Tagebuch festgehalten. Als das Versteck aufflog, landete es zwischen anderen Papieren im Abfall. Eine Mitarbeiterin rettete die Aufzeichnungen und übergab sie nach dem Krieg an Vater Otto Frank, der als einziger aus den Todeslagern zurückkehrte. Er veröffentlichte das Tagebuch im Jahr 1947. Inzwischen wurde es in 70 Sprachen übersetzt.

Noch halbwegs unbeschwert

Amsterdam ist sonnig an diesem Tag. Über die Grachten ziehen Ausflugsboote, am Ufer trinken junge Paare Sekt, Radfahrer klingeln sich den Weg frei. Ein Idyll, das in eigenartigem Kontrast steht zu der düsteren Geschichte, an die hinter der nichtssagenden Ziegel- und Glasfassade erinnert wird. Es ist nur schwer vorstellbar, wie einst Angst, Misstrauen und Terror das Leben in dieser Stadt beherrschten, wenn doch jetzt die Möwen stilvoll schreien und ganze Reihen herrschaftlicher Fassaden sich pittoresk im braunen Wasser spiegeln.

Die Besucherschlange vor dem Anne-Frank-Haus reicht 150 Meter weit bis zum „Homomonument“, dem großen Dreieck aus rosa Granit, das an die Verfolgung der Homosexuellen weltweit erinnert. In der Hochsaison zieht sie sich um die ganze Westerkerk bis zum kleinen Anne-Frank-Denkmal auf der anderen Seite, das viele für ein Selfie nutzen. „Der berühmteste Flüchtling der Welt“ ist gefragt wie nie zuvor. 1,2 Millionen Menschen haben das Anne-Frank-Haus im vergangenen Jahr besucht. Trotzdem schaffen es die Museumsbetreiber, den Andrang sinnvoll zu organisieren. Ein paar Fotos zu Beginn zeigen die Familie halbwegs unbeschwert am Strand. Doch in den kurzen Videos daneben sind schon Menschen mit Stern auf dem Mantel unterwegs, und Hitler kündigt brüllend die „Vernichtung der jüdischen Rasse“ an.

Heinz Rühmann, Greta Garbo

Ein Stockwerk höher zeigt ein Modell des Hauses die Verteilung der Räume. Dann geht es durch das drehbare Bücherregal, das als Tarnung gezimmert wurde, hinein ins Versteck. Die Räume sind kahl. Umso mehr berühren die wenigen Dinge, die von damals erhalten sind: Mit Bleistiftstrichen an der Wand hat Vater Otto das Wachstum seiner beiden Töchter festgehalten. In Annes Acht-Quadratmeter-Zimmer, das sie mit dem 54-jährigen Zahnarzt Fritz Pfeffer teilte, kleben noch Fotos von Heinz Rühmann, Greta Garbo und Sonja Henie. Das Klo, das tagsüber nie benutzt werden durfte, hat ein Ranken- und Pfauenmuster, und an der kleinen Landkarte der Normandie feierten die acht enthusiastisch den Vormarsch der Alliierten. An den Wänden stehen kurze Zitate aus dem Tagebuch: „Der englische Sender spricht von Vergasungen. Ich bin völlig durcheinander.“

Oben unterm Dach schildert eine Dokumentation dann das Ende: „Arrest und Deportation“. Auf Fotos kontrollieren Uniformierte die Listen des letzten Transports, der von Westerbork nach Auschwitz geht und in den die Familien Frank, van Pels und Fritz Pfeffer gesteckt werden. Blatt Nr. 7 liegt auf und führt die Nummern 301 bis 350 auf. Nr. 343 etwa: Arthur Ginsberg, geboren am 24. 3. 1927, Bäcker von Beruf.

Es gibt in Amsterdam viele Möglichkeiten, sich Anne Frank und der Geschichte der Nazi-Besatzung zu nähern. Im Mai 2014 eröffnete das eigens für diesen Zweck erbaute Theater Amsterdam mit dem Stück „Anne“. Auf einer riesigen, halbrunden Bühne dreht sich ein nach allen Seiten offenes Haus. Das Schauspiel arbeitet mit diversen theatralischen Übertreibungen und schrammt manchmal nah an Klamauk oder Kitsch entlang. Aber es liefert auch ein paar neue Puzzleteile für das Bild jener Zeit: Holländische Kopfjäger etwa, die untergetauchte Juden aufspürten, erhielten angeblich sieben Gulden 50 pro Kopf. Auch die absurde Parallelität der Lebenswelten im Versteck erschließt sich anschaulich: Während in den Kontoren vorn die Sekretärinnen tippten und Arbeiter im Lager Opekta-Flaschen verpackten, schälten die Menschen im Hinterhaus gleichzeitig Kartoffeln, paukten lateinische Verben oder zischten sich genervt „Mensch, leise!“ zu – alles in nie endendem Halbdunkel. Sie fühle sich „zusammengepfercht mit all den Menschen, die mir zum Hals raushängen“, schreibt Anne am 7. November 1942.

Haus Nummer 37

Anderntags ist Nebel eingefallen. Der graue Dunst über den Grachten, das Gewirr der kahlen Zweige, die Schemen von Brücken und Menschen verleihen der Stadt etwas Trostloses oder sehr Gemütliches – je nach Stimmungslage des Betrachters. Am Mervedeplein im Süden startet Führerin Daphne Duyne ihren Rundgang. Hier, in Haus Nr. 37, lebte Familie Frank, nachdem sie 1934 aus Frankfurt am Main emigriert war. In dem kleinen, dreieckigen Park steht eine Bronzefigur von Anne, ein Mädchen mit zwei schweren Taschen, das sich im strömenden Regen auf den sechs Kilometer langen Weg zum Versteck im Zentrum aufmacht.

Angeregt hat das Denkmal Buchhändler Jimmink, der an der nächsten Ecke jenen Buchladen betreibt, in dem Otto Frank das Tagebuch für seine Tochter gekauft hatte. Ein Foto zeigt diese mit zwei Freundinnen im Alter von sieben: Drei Mädchen in weißen Kleidern halten Puppen im Arm und lachen fröhlich. Der zwölfstöckige „Wolkenkratzer“ ragt hinter ihnen auf wie heute, selbst die Straßenlampen sind die gleichen. Rund um den Platz wurde in den 1920er-Jahren das Flussviertel angelegt: Breite Straßen, vierstöckige Wohnblocks aus hellem Backstein, mit weißen, ganz unterschiedlichen Sprossenfenstern, Balkonen und Lastkränen – hier lebte und lebt der solide Mittelstand. Im Eissalon Oasis, jetzt ein Lokal namens Oase, traf Anne sich mit ihren Freundinnen. Suppenwagen waren damals auf den Straßen unterwegs, sagt die Führerin, Scherenschleifer klingelten, und überall standen, genau wie heute, Fahrräder herum. Ab 1942 wurden es weniger – weil Juden keine mehr besitzen durften ebenso wenig, wie sie Radio hören oder Schwimmbäder, Restaurants und Nichtjuden besuchen durften.

Die Fassade der Montessori-Schule, in die Anne ging, ist heute farbenfroh mit Schriftzügen aus ihrem Tagebuch bemalt. In der Lekstraat mussten die Juden ihre gelben Sterne für die Mäntel kaufen. Vor der Synagoge steht wie vor dem Anne-Frank-Haus seit den Anschlägen von Brüssel ein weißer Polizei-Container. Auf dem ehemaligen Judenmarkt erinnert ein Denkmal spielender und abseits stehender Kinder an die Rassentrennung.

Generalstreik im Februar 1941

Vom Tramdepot schließlich ging die Initiative zum Generalstreik im Februar 1941 aus, mit dem die Amsterdamer sich zwei Tage lang gegen die Verhaftung jüdischer Männer wehrten. In Tram Nr. 9 fanden die Fahrgäste öfter „lebende Paketchen“, Kinder, die von ihren Eltern abgelegt worden waren, in der Hoffnung, dass jemand sich um sie kümmerte. Und an einem Wohnhaus erinnert eine Tafel an Gerrit Jan van der Veen, der Papiere für Untergetauchte fälschte, das Einwohnermeldeamt in Brand steckte und von den Deutschen erschossen wurde.

Ganz unpathetisch erzählt Daphne Duyne von Verfolgung und Widerstand. Und ganz allmählich weitet sich der Horizont der Besucher, vom Blick auf ein lebhaftes, gewitztes Mädchen in der Pubertät auf die Schicksale von insgesamt 107.000 Juden, die die Deutschen aus Holland in die Vernichtungslager schickten. Anne Frank war eine von ihnen. Sie hat ihnen ein Gesicht gegeben.

Wildschweingulasch mit Oliven

Der Film: „Das Tagebuch der Anne Frank“ läuft am 3. März in den Kinos an. Mit dabei sind Lea van Acken, Martina Gedeck, Ulrich Noethen und Margarita Broich. Regie führte Hans Steinbichler. universalpictures.at/tagebuchannefrank


Anreise:
Von Wien fliegen Austrian Airlines und easyjet direkt nach Amsterdam – ab ca. 110 Euro. austrian.comeasyjet.com/de


01. Anne-Frank-Haus: Ein begrenztes Kontingent an Karten ist online erhältlich. Diese sind an ein bestimmtes Zeitfenster gebunden. Erw.: 9,50 Euro, 10–17 Jahre: 5 Euro. Auch die 30-Minuten-Einführungen sind sehr gefragt: Erw.: 14.50, 10–17 Jahre: 10 Euro. Sonst bleibt nur, sich in der Schlange anzustellen. Gegen Abend wird sie kürzer. Prinsengracht 267, Tel.: +31/(0)20/5567105, annefrank.org

02. Theater Amsterdam: Von April bis Juni finden jeweils sonntags zwei Vorstellungen statt. Tickets: Erw.: 35 bis 79 Euro. Bis 16 Jahre: 20 bis 69 Euro. Es gibt Übersetzungen ins Deutsche per Kopfhörer oder auf einem Tablet. Das zweigängige Menü im angeschlossenen Restaurant kostet 29,50. Danzigerkade 5,1013 AP Amsterdam, Tel.: +31/(0)20/705 50 00; theateramsterdam.nl/en

Die Anne-Frank-Nachbarschaftstour
dauert ca. zwei Stunden und kostet 27,50 Euro pro Person. Zu buchen über HTG Services, +31/(0)228/85 00 55, getyourguide@htgservices.nl, getyourguide.com

03. The Albus: vier Sterne, schön designte Zimmer, freundliches Personal und eine ausgezeichnete Lage. Das Einkaufsparadies Kalverstraat ist nahe und in den Glashäusern an der Singel gibt es Blumenzwiebeln von so ziemlich allem, was sich in die Erde stecken lässt und irgendwann wieder hervortreiben soll. DZ ab 114 Euro, Frühstück (F) 19 Euro. Vijzelstraat 49, 1017 HE Amsterdam, +31/(0)20/530 62 00, welcome@albushotel.com, albushotel.com

04. thotel:
sehr schöne Räume, die alle nach Grachten benannt sind – und das Haus selbst, ein Gebäude aus dem 17. Jahrhundert wurde eben wieder stilvoll restauriert und liegt malerisch an der Leliegracht, mit Ausblicken aufs Wasser oder in die Gärten. DZ + F ab 90 Euro. Leliegracht 18, 1015 DE Amsterdam, +31/(0)20/422 27 41, amsterdam@thotel.nl, thotel.nl

05. The Times:
Kein Luxus, aber sonst ist alles da, was man bei drei Sternen erwarten kann. Das große Plus: Die Lage in der charmanten Herengracht in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert. Damplatz, Hauptbahnhof, Anne-Frank-Haus sind gut zu Fuß zu erreichen. Wer das schätzt, nimmt in Kauf, dass manche Zimmer etwas klein und hellhörig sind. DZ ab 140 Euro, Frühstück: zehn Euro. Herengracht 135–137, 1015 BG Amsterdam, +31/(0)20/330 60 30, info@thetimeshotel.nl, thetimeshotel.nl

06. Van Puffelen
ist so etwas wie eine Amsterdamer Institution und bei Einheimischen wie Touristen gleichermaßen beliebt. Man isst gut und nicht zu teuer in den altehrwürdigen, dunklen Räumen – zum Beispiel Ravioli mit Entenconfit, Pecorino, Kürbiskernen und schwarzen Linsen etwa (neun Euro), oder Wildzwijnstoof, sprich Wildschweingulasch mit Oliven, Salbei, Karfiol, Kastanienpilzen, Speck und Blaukraut – aber ja doch, das passt ganz wundervoll zusammen (18 Euro). Prinsengracht 375–377, 1016 HL Amsterdam, info@restaurantvanpuffelen.com, +31/(0)20/624 62 70, restaurantvanpuffelen.com

07. Morlang:
Noch eines dieser wunderbar unkomplizierten und ultragemütlichen Café-Restaurants Amsterdams. Und genauso geradeheraus und schmackhaft ist das, was aus der Küche kommt – zum Beispiel Safranrisotto mit Meeresfrüchten (21 Euro), Rotes Hühnercurry (17,50 Euro) oder der Linsensalat mit Schafkäse und Kresse (14 Euro). Keizersgracht 451, 1017 DK Amsterdam, mailmorlang.nl, +31/(0)20/62 52 681, morlang.nl

Infos:
iamsterdam.com, amsterdam.info, amsterdamtourist.info

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.