Kurzweilig wie ein toter, eingelegter Hai

Ja, Vergnügen sei unentbehrlich, sagt Literaturnobelpreis-träger Vargas Llosa. Aber die Aufgabe des Journalismus ist etwas anderes: über den Zustand der Welt zu informieren, in der wir leben.
Ja, Vergnügen sei unentbehrlich, sagt Literaturnobelpreis-träger Vargas Llosa. Aber die Aufgabe des Journalismus ist etwas anderes: über den Zustand der Welt zu informieren, in der wir leben.Fredrik von Erichsen / dpa / picturedesk.com
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Klatsch und Skandal. Der Journalismus versucht heute – wie die Kultur – vor allem eines: das Publikum zu unterhalten, mit schicken Scheinwelten oder Blut und Sex. Eine Gefahr für die Demokratie.

Das bedeutendste kulturelle Phänomen unserer Zeit ist die Banalisierung, die Frivolisierung der Kultur. Es besteht darin, dass die Kultur – oder das, was inzwischen diesen Stempel trägt – mehr und mehr zu etwas geworden ist, was simpel und leicht zugänglich ist. Unter dem Vorwand, sie zu demokratisieren, sie für alle zu öffnen, auch für die am wenigsten Gebildeten, ist Kultur mehr und mehr zur Unterhaltung geworden. Zu etwas, mit dem man sich eine Zeit lang vergnügen kann, weit weg von den Sorgen und Plackereien, die der Alltag den meisten aufzwingt.

Nichts offenbart dieses Phänomen vielleicht so anschaulich wie die Ausstellungen moderner Kunst – sogar jene in renommierten Museen. Das letzte Mal, als ich in London war, musste ich lang Schlange stehen, um in der Tate Modern eine Schau von Damien Hirst zu sehen. Ausgestellt waren dort seine berühmten erstochenen, in Formaldehyd eingelegten Haie und ein tropisch-feuchter Raum voller Schmetterlinge, die irgendwann tot auf die Krägen und Kleider der Besucher herabfielen. Viele Familie hatten ihre Kinder mitgebracht, und zweifellos vergnügten sich diese Kleinen bei Hirst so sehr, als wären sie in Disneyland.


Leuchttürme. Was in der Kunst offensichtlich ist, zeigt sich genauso im Journalismus, früher einer der Leuchttürme jener Kultur, die man in Versalien schreibt – dieser Tage wird Kultur ja nur noch kleingeschrieben. Zwar gab es immer einen anspruchslosen, einen proletoiden Journalismus, der von Klatsch lebte und Klatsch verbreitete und einen einzigen Zweck verfolgte: seine Leser zu unterhalten. Aber er war doch eher eine Randerscheinung und richtete sich an eine Minderheit mit wenig und prekärer Bildung. Daneben, und für einen größeren Teil der Gesellschaft, gab es einen Journalismus, der es als seine Aufgabe verstand, mit Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit über das zu informieren, was in der Welt passierte. Hier schrieben oft die besten Schriftsteller und Denker ihrer Zeit, in Spanien etwa fast alle Romanciers und Essayisten der berühmten Generation von 98. Unamuno, Azorín, Pérez de Ayala, Marañón und – obwohl um einiges jünger – der großartige liberale Philosoph Ortega y Gasset verfassten einen Gutteil ihrer Werke als Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die – verglichen mit jenen, die man heute zu lesen bekommt – Meisterwerke der Literatur und des kritischen Denkens sind.

Heute folgt auch der Journalismus diesem scheinbaren Auftrag der Kultur und versucht vor allem eines: zu unterhalten und zu amüsieren. Die seriöseren Zeitungen tun das, ohne die Wahrheit zu opfern, aber indem sie sie so kurzweilig wie möglich gestalten, ohne dem Leser sonderliche geistige Anstrengungen abzuringen. Der andere Journalismus, der weniger verantwortungsvolle, dessen vorrangiges Ziel es ist, Leser zu gewinnen oder zumindest jene nicht zu verlieren, die er schon hat, zögert dagegen nicht, das auf Kosten der Wahrheit zu tun. Er hüllt sie in so viel Fantasie, dass sie zur Lüge wird.

Ich möchte eine scharfe Trennung zwischen Klatschjournalismus – ich nenne ihn rosaroten Journalismus – und dem Skandaljournalismus, dem gelben, der Yellow Press, vornehmen. Obwohl beide einiges gemeinsam haben, fußen sie auf fundamental anderen Weltsichten. Der rosarote besteht aus TV- und Radiosendungen, Zeitungen oder Magazinen mit einer ganz bestimmten Sicht auf das Leben: Es ist ein Märchen, voller Überfluss, Luxus und Genuss. Voller Menschen, die gegen Unglück immun zu sein scheinen.

Keine Zeitschrift hat es darin wohl derart zur Perfektion gebracht wie das spanische Wochenmagazin „Hola!“, das inzwischen in mehr als zwanzig Ländern publiziert wird und Millionenauflagen hat. Während die Zeitungen – ich meine die gedruckten – tapfer um ihr Überleben kämpfen, weil es von Tag zu Tag weniger Menschen gibt, die sie kaufen, und mehr, die sie nur noch im Netz lesen, verkauft „Hola!“ allein in Spanien eine Million Hefte pro Woche.

Die Menschen auf den Seiten dieser Zeitschrift sind alle extrem reich oder erwecken zumindest den Anschein davon. Sie bewegen sich nur in eleganten Villen, die manchmal geschmackvoll, manchmal protzig eingerichtet sind, an schönen Orten, in exklusiven Klubs, an paradiesischen Stränden, in noblen Salons, in denen opulente Feste gefeiert werden, auf Jachten, die durch kristallblaues Wasser gleiten, in Privatjets oder Schlössern. Es sind Menschen, die allesamt scheinbar nichts anderes tun, als das Leben zu genießen: die essen, trinken, heiraten, wieder heiraten, jagen, Sport treiben und Modeschauen besuchen. Sie scheinen frei zu sein von jeglicher Erfahrung des Leids, des Mangels, der Not und von der Notwendigkeit, sich im Schweiße ihres Angesichts den Lebensunterhalt zu verdienen. Auf diesen Seiten muss niemandarbeiten, sondern alleamüsieren sich und genießen. SogarBerichte über Scheidungen oder Begräbnisse werden präsentiert und bebildert, als handle es sich um ganz und gar nicht traumatische Ereignisse. Es ist irgendwie verständlich, dass jene, die – wie die große Mehrheit der Menschen – im Leben mit vielfältigsten Problemen zu kämpfen haben, sich bisweilen in eine solche Welt flüchten wollen, in der alle Menschen schön und elegant sind und ihre Tage und Nächte nur einer Sache widmen: glücklich zu sein.

Der andere, gelbe Journalismus ist das Gegenteil. Auf seinen Seiten, in seinen TV- oder Radiosendungen ist das Leben ein lärmendes Inferno, blutig, geprägt von Skandalen, die meist mit Sex zu tun haben. Die Protagonisten dieser Berichte haben den Staat betrogen oder Privatpersonen geprellt, haben die Insolvenzen von Banken oder Firmen verschuldet, hochrangige Familien in den Ruin getrieben, sie wurden oder haben betrogen und haben Familien der Verzweiflung und dem Spott preisgegeben. Sie sind in blamablen oder entwürdigenden Situationen – bei Orgien, Seitensprüngen, Dreiern – erwischt worden, haben Verbrechen begangen oder waren Opfer krimineller Akte, die Familie und Bekanntenkreis mit Schande und Schmach erfüllen.


Grausam und gemein. Dieser Journalismus entstellt systematisch die Wirklichkeit, indem er ihr wie ein perverser Chirurg all das herausschneidet, was edel, rein, idealistisch, großzügig und solidarisch ist, und alles Bösartige betont: das Hinterlistige, Grausame, Gemeine, Sündhafte und Unehrliche. Er lebt vom Skandal – und wenn er ihn nicht findet, hat er keine Skrupel, ihn selbst zu fabrizieren, indem er Tatsachen verschweigt oder verschärft – damit diese negative Sicht der Welt zustande kommt und er sein Publikum mit Blut und bizarrem Sex versorgen kann. Was bringt die Menschen dazu, solche Zeitschriften zu kaufen, solche Sendungen anzusehen? Die Neugierde auf all das, was wir vor den anderen zu verstecken suchen: diese kleinen Blamagen, Irrtümer, Fehler, aus denen das Leben eben auch besteht und die, wenn man sie ans Licht zerrt, die Sensationslust erregen. Und wohl die Tatsache, dass einem das Erleichterung verschafft: Wenn die Menschheit so niederträchtig, so grausam handelt, ist all das, was es in unserem Verhalten an Negativem gibt, irgendwie gerechtfertigt. Denn wenn das Leben nicht mehr als das ist, nicht mehr als reiner Dreck, wie es in einem Tango heißt, dann ist nichts von dem, was wir machen, schlecht und unwürdig. Dann drücken alle unsere kleinen Sünden nur etwas aus, was allen Menschen gemein ist.


Gefahr für die Freiheit. Der Journalismus unserer Zeit besteht – zum Glück – nicht nur aus Klatsch und Skandalen. Aber die Vorstellung, dass sein vorrangiger Zweck nicht ist, zu informieren, Kritik zu üben oder zu dem Stellung zu nehmen, was in der Welt passiert, sondern zu unterhalten, öffnet eine gefährliche Tür. Durch sie sind sogar die seriösesten Zeitungen schon von jenen Viren angesteckt worden, die entstellen, was früher die Daseinsberechtigung des Journalismus war: Information und Kritik. Es wäre angebracht, sich bewusst zu machen, dass Klatschjournalismus und Skandaljournalismus gravierende Gefahren für die Kultur der Freiheit sind. Eine Demokratie braucht kritische Teilhabe der Bürger – und dafür braucht es objektive und verantwortungsvolle Informationen darüber, was in der Gesellschaft geschieht. Ja, das Vergnügen und die Unterhaltung sind unentbehrlich. Ohne sie wäre das Leben finster und trist. Aber das sollte man nicht im Journalismus suchen, dank dem wir wissen (oder wissen sollten), in welchem Zustand die Welt ist, in der wir leben.

Aus dem Spanischen übersetzt von Bernadette Bayrhammer.

Zur Person

Mario Vargas Llosa (*1936 in Arequipa, Peru) gehört zu den großen lebenden Autoren der Weltliteratur, er hat eine Fülle an Romanen, Erzählungen und auch kritischen Schriften verfasst. Einige Werke wurden verfilmt.

International bekannt machte ihn der Roman „Die Stadt und die Hunde“ (1962), darin verarbeitete er seine Erfahrungen in einer Kadettenanstalt. Weitere wichtige Bücher: „Das grüne Haus“ (1965), „Tante Julia und der Kunstschreiber“ (1977), „Der Krieg am Ende der Welt“ (1981), „Der Geschichtenerzähler“ (1987) sowie „Ein diskreter Held“ (2013).

In den 1980er-Jahren engagierte sich Vargas Llosa als Vorsitzender einer neuen liberalen Partei, 1990 bewarb er sich für das Amt des Präsidenten, unterlag aber Alberto Fujimori.

2010 wurde Vargas Llosa mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es, dieser Autor analysiere „Machtstrukturen mit messerscharfen Bildern von Widerstand, Revolte und Niederlage des Individuums“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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