Wolfgang Rihm: "Das Nutzlose ist das Nachhaltige"

Music composer Wolfgang Rihm =
Music composer Wolfgang Rihm =Graziano Arici / Eyevine / picturedesk.com
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Der Komponist Wolfgang Rihm ist seit 1982 ein zentraler Künstler der Salzburger Festspiele. Auf Anregung von deren Präsidentin macht er sich Gedanken über die Macht der Kunst und das Zeitgemäße der "Hochkultur".

Macht der Kunst – ein durch und durch metaphorisches Wortgebilde. Eigentlich sind Kunst und Macht in einem Querstandverhältnis. Aber Macht, weltliche, geistliche, finanzielle, psychologische, kann sich durch Kunst in einen Zustand bringen lassen, überhaupt memoriert zu werden. Was würde an längst erloschene Machtzentren und deren zentrale Gestalten überhaupt noch erinnern, wenn nicht Kunst? Wir sammeln Kunst vergangener Epochen und lesen ihnen ehemalige Machtstrukturen ab. Die Machtstrukturen selbst sammeln wir nicht, allenfalls als anekdotische Zutat. Ehemals Mächtige verewigten sich durch architektonische Kunstwerke – übrigens bis in die Gegenwart. Aufträge an Künstler halten Machthaber im Gespräch, in der erinnernden Vergegenwärtigung. Am schwierigsten gelingt dies bei der objektlosen Flüchtigkeitskunst par excellence: der Musik. Ein weites Feld.

Dennoch meinen wir bei „Macht der Kunst“ noch etwas anderes mit: den formenden Eindruck, den sie beim Individuum hinterlässt. Diese Gestalt der Eindrücklichkeit ist es auch, weswegen manche in der Macht der Zerstörung eines Kunstwerks einen erstrebenswerten Mehrwert sehen. Ob aus religiösen oder ästhetischen Gründen: Störung und Zerstörung von Kunst dokumentieren gleichzeitig mit der Macht zur Vernichtung auch die Macht des Vernichteten, dessen man sich nicht anders erwehren kann, es sei denn durch seine Zerstörung, die es – nicht mehr als reale Gestalt, wohl aber als bedrohliche Wirkungsmacht – nur erneut und vielleicht schmerzvoll tiefer ins Bewusstsein der Beobachter einschreibt. Auch hier sind die Vorgänge in und um Musik wesentlich vielschichtiger als etwa bei Architektur oder plastischer Kunst. Eine gestörte Aufführung, und sei es nur durch jene quasi absichtslose Unaufmerksamkeitsgeste des zur falschen (also „richtigen“) Zeit ausgestoßenen Hustgeräuschs, zerstört ein Musikwerk in gleichem Maß wie eine bilderstürmerisch abgeschlagene Nase oder ein Stich in die Leinwand. Denn ein musikalisches Kunstwerk gibt es nicht außerhalb seiner Realisation. So sehr wir an die geistige Substanz glauben, die einer verschriftlichten Handlungsanweisung – Noten, Partitur etc. – innewohnt: Erst durch die Versinnlichung im Moment der durch unzählige Momente stellvertretend umschriebenen Aufführung, erst dann gibt es die Musik.

Die Furcht vor der Musik. Gleichzeitig mit ihrem Vergehen, ihrem Verschwinden, entsteht Musik in den Augenblicken ihrer Vergegenwärtigung. Wo ist ihre Macht? Machtlos ist sie in solchen Augenblicken der Häutung fähig, alles zu verändern: in dem, dem sie geschieht. Exakt dort – denn es ist ein „Ort“ – entsteht auch die Furcht vor ihr. Das bedeutet aber, dass sie, um zu sein, jemandem geschehen muss. „Macht der Musik“ kann es nur geben, wenn ihr entgegengehört wird. Ihre Gestalt ist gänzlich Vollzug. Ihre Macht liegt einzig und allein in ihrem Wahrgenommenwerden. Das zeigt etwas sehr deutlich: Wo ihr nicht entgegengehört wird mit Kenntnis und emotionalem Können, da ist sie nicht. Sie mag noch so laut tönen. Ihre Behauptung setzt voraus, dass sie dem, der sie wahrnimmt, etwas gilt, dass sie ihm etwas bedeutet.

Das Hören ist also die eigentliche Macht, bevor die Musik etwas mit dem Hörer macht. Festspiele sind also die großen festlichen Schulen, wo erfahren werden kann, wie weit es eine antwortfähige Virtuosität des Hörens gibt, die unterscheiden kann, was sie wie hört. Die alte Geschichte: Wenn keiner da ist, der hören kann, wird nichts gehört. Von erhört ganz zu schweigen. Wenn eine wissende Liebe da ist, die Kriterien hat und Kraft aus Kenntnis, dann kann musikalische Kunst ihre alles aus den Angeln hebende Macht entfalten. Und mit Kenntnis ist nicht gemeint: Spezialwissen, Detailinformation, Hintergrundwissenschaft, sondern etwas, das viel näher an der Ahnung ist, an der Unverschlossenheit, der Elastizität, um angebotenen Bewegungsabläufen und Schwingungen eigens antwortendes Mitschwingen entgegenbringen zu können. Gegen die bildhafte Gestalt des Mitschwingens richten sich die ikonoklastischen Reflexe. Das Mitschwingen, Mitgehen soll unterbrochen, also zerbrochen werden. Denn das Wesen des Musikvorgangs ist Energieweitergabe. Darin liegt die mächtige Schubkraft, durch deren Impuls etwas ausgelöst wird, das bestehende Übereinkünfte zumindest durcheinanderzuwerfen in der Lage ist.

Musik kann missbraucht werden, wie jede auf Freiwilligkeit und Energiefluss beruhende organische Gestalt. Das Politische von musikalischer Kunst müsste in ihrer Unverwendbarkeit für politische Aussagen bestehen. Paradox: Erst eine Kunst, die sich nicht für politische Beschriftung vereinnahmen lässt, die ungeeignet ist, um Energieströme zu zerbrechen, um Freiwilligkeit einzuebnen, wäre positiv politisch. Das Thema eines politisch deutbaren Handlungsrahmens ist sekundär. Aber auf eine sehr substanzielle Weise: Denn auch der anklagende Tenor einer inhaltlichen Konstellation wird als geformte Gestalt durch die Faktur der Musik vorgetragen.

Die Art, wie Musik gemacht ist (bevor sie gemacht wird!), gibt entscheidende Auskunft: Wie frei ist sie selbst? Wie stark sind ihre Bindungsenergien, um einen Zusammenhang zu verdeutlichen, in dem das Organische, das Kreatürliche – ja, das Menschliche – Ausdruck findet, in dem es sich Herrschaftsansprüchen subversiv widersetzt, ohne diese Eigenschaft als Behauptung eines Richtigen vordergründig zu etablieren? Viele gut gemeinte, gut gemachte Fakturen setzen sich selbst als Herrschaftsanspruch, der einen womöglich positiv gemeinten, inhaltlichen Impuls der Herrschaftslosigkeit hinterrücks relativiert. Auf manche protestbewegte Faktur lässt sich trefflich affirmativ marschieren.

Gleichschaltungen jeder Art – und seien sie noch so positiv besetzt – führen in Bereiche mechanistischer Unterdrückung. Deshalb könnte es eine Strategie sein, alles Mechanische fernzuhalten, eine Offenheit zu riskieren – auch auf die Gefahr der Unfassbarkeit hin –, die durch ihre menschenähnliche Reaktionsweise keinen Zweifel lässt: Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seiner Wärme und Unwägbarkeit; seine unvorhersehbare Nervenintelligenz, sein emotionaler Reichtum, der nicht über den freiwillig akzeptierten Ideenschwerpunkt hinaus ergründbar ist. Denn sicher ist: Stellung zu beziehen heißt, für Augenblicke auszublenden, dass Eindeutigkeit ein süßer Wahn ist. Ihm dennoch immer wieder erliegen zu müssen ist so etwas wie die Tragik der Freiwilligkeit. Kunst ist immer politisch. Am wenigsten aber, wenn sie sich selbst als „politische Kunst“ beschriftet. Auch das ist hart: Es liegt nicht im Ermessensspielraum der Künstler, politische Kunst zu schaffen oder nicht. Es gibt kein Ausscheren. Die Faktur, das Gemachte entscheidet über das, was dem Wort „politisch“ als Inhalt entspricht.


Hitler im Konzert. Es wird heute der Begriff Hochkultur als eine Art Ausschließlichkeits- (oder gar Ausschluss-)Merkmal gehandelt. Alles, was nicht jeder sofort versteht, muss verdächtige Hochkultur sein. Ein sehr lebensfeindlicher Standpunkt. Denn schließlich versteht keiner das Leben und lebt doch gern. Einfachste menschliche Regungen sind genuin unverständlich. Wie entstehen sie? Wie werden sie physiologisch realisiert? Wie ist ihre psychologische Auswirkung? Und – und – und? Und trotzdem sind solche Regungen – Emotionen, Gefühle – uns allen gemein, und sie werden durch die unterschiedlichsten, oft geradezu entgegengesetzten Phänomene ausgelöst. Das Entsetzliche ist: Der verabscheuenswürdigste Verbrecher hat womöglich vergleichbare Emotionen wie man selbst.

Ist dieses Wissen Hochkultur? Man liest von Subjekten, die zu Mozart-Musik Verbrechen begehen. Man sieht Fotografien: Hitler und Goebbels im Konzert, Furtwängler nimmt ihren Beifall entgegen. Aha, Hochkultur. Typisch. Nicht mehr zeitgemäß. Wenn in Hollywood-Filmen ein Serienkiller charakterisiert werden soll, macht man ihn besonders unheimlich, in dem man ihn still-versonnen Bach hören lässt. Das Unbehagen, das sich vielen bei den verordneten Ikonen der sogenannten Hochkultur mitteilt, ist die Gestalt des bejahten Ausschlusses aus der Welt der sogenannten normalen Verhältnisse. Hochkultur aber ist dadurch etwas, das erst einmal dazu gemacht werden muss. Als wäre da etwas, das so wahnsinnig kompliziert ist, dass es nur kranke Gehirne wirklich begreifen. Schließlich nehmen sie das Zeug ernst, verwenden Zeit und Interesse auf Gegenstände, mit denen man freiwillig nichts zu tun haben möchte. Warum? Da sie eben so kompliziert sind? Zumindest sagen das die meisten. Was, wenn ich gestehe, dass mir die Unterhaltungswelt, die Popkultur, mit ihren komplizierten Codes und Signalen unverständlich ist? Ich spüre da vor allem eine übergriffige Macht, eine dunkle Materie aus Machtansprüchen und Gleichschaltungsstrategien, die das Individuelle erbarmungslos niederhält.

Ist das zeitgemäß? Natürlich haben wir die Freiheit, uns all dem zu entziehen. Aber was ist mit dem Gegenbild? Wenn in Medien über sogenannte Hochkultur berichtet wird, werden abendkleidvermummte Gestalten gezeigt, die in Bayreuth oder Salzburg umherwanken. Dazu ein Scheinsound: Classic. Das kann es auch nicht sein, oder? Ob zeitgemäß, lässt sich gar nicht erst fragen. Ich versuche es so: Wenn Kultur nicht hoch ist, kann sie eigentlich keine sein. Aber hoch ist sehr relativ, wie jeder Lateinschüler weiß, altus: hoch, tief. Wenn keine Vertiefung möglich ist, kein Einlassen in die tieferen Schichten eines kulturellen Phänomens, kein individuelles Eingehen auf mehr als den kurzfristig oberflächlichen Nutzen – warum sollten wir dann überhaupt von Kultur sprechen?

Wir selbst entscheiden also durch unseren Umgang, ob es sich um Kultur handelt. Das Abschöpfen von Werten, die durch Kultur zugänglich gemacht werden, kann genauso gut Raubbau sein, der exakt das, was er nutzt, durch diese Nutzung gefährdet. Sich auf Nutzloses einzulassen wäre ein erster Schritt, um – modisch ausgedrückt – nachhaltig zu wirken. Von Kunst ist hier noch gar nicht die Rede. Es liegt eigentlich in unserer Macht: zu bestimmen, ob Zeitgemäßes eine Maßgabe für Kunst und Kultur sein sollte. Die Macht der medienmöglichen Vervielfältigungen suggeriert eine Befähigung zur Mehrheit, letztlich eine Art Parodie demokratischer Prozesse. Vor diesem Hintergrund wird es problematisch, überhaupt die Wahl zu haben. Da Kunst in ihrem Entstehen etwas radikal Individuelles ist. Übrigens ist genau das auch das Politische an ihr.

Zur Person

Geboren 1952 in Karlsruhe, lebt ebendort und in Berlin.
Kunstverständnis.
Rihm stellt den subjektiven Ausdruck in den Mittelpunkt seiner Kunst, was ihn mit Komponisten wie Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen oder Luigi Nono verbindet. Viele Werke sind von Literatur inspiriert (etwa von Celan oder Nietzsche). Rihm nennt seine Werke oft „Versuche“, die er ständig erweitert, ergänzt oder miteinander verbindet.
Kompositionen.
Neben einer Fülle von Werken für kleinere Ensembles und drei Symphonien hat Rihm auch für die Bühne geschrieben, wie „Die Hamletmaschine“, „Oedipus“ oder „Dionysos“, das bei den Salzburger Festspielen 2010 triumphal uraufgeführt wurde. Dort wurde 2015 auch „Die Eroberung von Mexiko“ gegeben.

Der Essayist. Als Musiktheoretiker, Lehrer und musikalischer Berater hat Rihmsich ebenfalls einen großen Namen gemacht. 1985 übernahm er den Lehrstuhl für Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe.

Ab Sommer 2016 wird Rihm die künstlerische Gesamtleitung der von Pierre Boulez gegründeten Lucerne Festival Academy übernehmen.

Graziano Arici/Eyevine/picturedesk.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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