Warum die Russen so gute Kandidaten haben – und Sergej Lazarews Sieg auch ein politischer wäre.
Das, was über Sergej Lazarew bekannt ist, liest sich wie die Biografie eines hard working man, der noch dazu das Lachen nicht verlernt hat: Von klein auf machte er Sportgymnastik, sang im Ensemble des Moskauer Kinderpalasts, durchlief die Ausbildung am prestigeträchtigen Moskauer Tschechow-Theater, gründete mit einem Freund die Boygroup Smash, heimste Preise in zahlreichen TV-Talenteshows ein und wurde 2011 mit dem Award des „stilvollsten Interpreten“ ausgezeichnet.
Russlands Nominierungen für den Song Contest sind eine Symbiose aus strenger, sowjetisch geprägter Ausbildung und postmoderner Unterhaltungsindustrie, eine Kreuzung aus Kindertanzgruppe und Glamour-Show. Dass das Modell funktioniert, ist am Favoriten der Buchmacher zu sehen: Sergej Lazarew, 33-jähriger Vertreter der Russischen Föderation, liegt mit seinem „You are the only one“ deutlich voran. „Du bist die/der Einzige“, wird er nicht müde, während des drei Minuten langen Songs zu betonen. Wir glauben dir, möchte man sagen und ihm auf die Schulter klopfen, ist schon gut!
Sänger wird intern ausgewählt
Russland spart sich auch beim ESC das demokratische Beiwerk einer Publikums-Vorentscheidung und ernennt seinen Vertreter intern. So vermeidet man Debatten, allzu schräge Töne und präsentiert geschmeidige Vertreter aus der heimischen Hitfabrik, deren Songs oft mit Hilfe westlicher Produzenten entstehen. 2008 gewann Dima Bilan mit dem vom US-Star Timbaland produzierten „Believe“ den Bewerb. Im Vorjahr versäumte Polina Gagarina mit ihrer Völkerfreundschaftshymne „A Million Voices“ knapp den ersten Platz. Auch Lazarews Lied stammt von zwei westlichen Schlagerprofis. Die Bühnenshow, bei der der junge Mann in einer düsteren Szenerie ausgesetzt wird und auf der Deko herumklettern muss, erinnert an den Beitrag des Vorjahresgewinners, Måns Zelmerlöw.
Den zweiten Rang Gagarinas im Vorjahr empfand man in Russland als ungerechte Strafe für die politischen Verwerfungen zwischen Ost und West. Trotzig fordert man nun seinen wohlverdienten „Sieg“, der angesichts der bröckelnden EU-Sanktionenfront und der Selbstzweifel Europas ziemlich zeitgemäß wäre. Für Moskau wäre es ein seltener Triumph heimischer Soft Power: sozusagen die Rückkehr zur musikalischen Weltmacht.
Sollte Lazarew tatsächlich siegen, muss sich das europäische Publikum erneut mit dem leidigen Themenkomplex Pop und Putin beschäftigen: Schto delat' – was tun – angesichts des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“, der Einschränkung der Versammlungsfreiheit, des Kleinhaltens von Opposition und Zivilgesellschaft? Und dann ist da noch eine Frage, die vor allem die vielen treuen homosexuellen Fans des ESC beschäftigen wird: Kann man 2017 nach Russland fahren?
Inszenierte Homosexualität
„Ich habe nichts gegen Schwule“, sagte Lazarew in Stockholm, er gebe auch vor schwulem Publikum Konzerte. Das Spiel mit den sexuellen Identitäten ist längst in der russischen Popkultur angekommen, wie etwa die Inszenierung der Girlgroup tATu als lesbisches Paar zeigt, oder auch eben jener Schlagerstar Filipp Kirkorow, der den Text zu Lazarews Lied geschrieben hat. Solange sie sich nicht im wirklichen Leben bemerkbar machen, hat man in Russland nichts gegen Homosexuelle. Was aber, wenn zwei Männer auf der Straße Händchen halten? Man kann gewiss sein, dass der Kreml auch für 2017 eigene Lösungen hat. Nicht aus der Hit-, sondern aus der Politfabrik.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2016)