Die Schleusenwärter am Bosporus

Refugees wait for the arrival of officals at Nizip refugee camp near Gaziantep
Refugees wait for the arrival of officals at Nizip refugee camp near GaziantepREUTERS
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In der Flüchtlingskrise ist die Türkei zum Schlüsselland für Merkel und die EU geworden. Beim UN-Gipfel in Istanbul hofft die Regierung, die mehr Flüchtlinge als jede andere aufgenommen hat, nun selbst auf Hilfe.

Ruckartig treiben die Windstöße Plastikfetzen, Dosen und leere Flaschen vor sich her. In der kargen Einöde östlich von Nizip im Süden der Türkei, durchschnitten von einer Fernstraße und dem Euphrat-Staudamm, wirbeln Staubfahnen. Unter einem steinigen Hügel, auf dessen Anhöhe die rot-weiße Fahne mit dem Halbmond und dem Stern weht, ducken sich zwei Camps, fernab von jeder Zivilisation: Nizip I und Nizip II, strikt separiert in Nationalitäten, um jeden Konflikt zu vermeiden.

Im Zeltlager Nizip I hausen irakische und afghanische Flüchtlinge, im Containerlager Nizip II Flüchtlingsfamilien aus Syrien – und die Syrer haben es entschieden besser getroffen. Jeder Container, 21Quadratmeter groß, ist mit einer Satellitenschüssel und mit einer Klimaanlage ausgestattet, er umfasst drei Zimmer samt Küche und Wohnschlafzimmer, wo sich zuweilen ein Dutzend Menschen drängt. Das Lager beherbergt Kindergarten, Schule, Supermarkt, Moschee und Fußballkäfig. Es strahlt so etwas wie eine dörfliche Atmosphäre aus, in der verschleierte Mütter Babys im Kinderwagen spazieren führen.

Keine 50 Kilometer südwärts, jenseits der türkisch-syrischen Grenze, tobt indessen der Krieg. Fast täglich sucht der Schrecken des bereits fünf Jahre andauernden Konflikts die türkische Grenzstadt Kilis heim. Er fordert seinen Blutzoll, auch unter den Flüchtlingen. Die Raketen der IS-Terrormilizen schlagen in der Stadt ein, in der die Zahl der Migranten die der Einwohner längst übertroffen hat. In Kilis haben die Bewohner – für ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gepriesen und inzwischen sogar für den Friedensnobelpreis nominiert – ihre Verwandten aus Aleppo und anderswo lange Zeit mit offenen Armen aufgenommen, um Brot und Tee mit ihnen zu teilen.

Zermürbt vom Bombenhagel drohen unterdessen die Türken in Kilis – und nicht nur hier – die Nerven, ihre Geduld und ihre Toleranz zu verlieren. Der Vizegouverneur von Gaziantep, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, bezeichnet die Flüchtlinge diplomatisch denn auch als Gäste – die, so seine vage Hoffnung, irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren würden.

Genau dies würden Mustafa, Ahmet, Mehsut und ihre Frauen in Nizip am liebsten auch tun, versichern sie im Brustton der Überzeugung – sofern in Syrien endlich Frieden einkehren würde. Und für sie heißt dies nichts anderes, als Bashar al-Assad von der Macht zu vertreiben. Ahmed glaubt nicht an eine Verhandlungslösung, sondern an Waffengewalt. Sein Sohn kämpft für die Freie Syrische Armee. „Irgendjemand muss die Heimat ja schließlich verteidigen“, sagt er, während die Klimaanlage in den eigenen vier Containerwänden auf der höchsten Stufe surrt.

Rund drei Millionen Flüchtlinge nahm die Türkei auf, zehn Milliarden Dollar steckte Ankara nach offiziellen Angaben in die Infrastruktur der Flüchtlingshilfe. Ein Zehntel der Flüchtlinge lebt in Lagern, der Rest hat sich in Städte vor allem im Süden der Türkei durchgeschlagen. Ca. 400.000 Menschen zog es nach Istanbul, in die Bosporus-Metropole an der Kreuzung zwischen Asien und Europa. Dass hier in der kommenden Woche der UN-Weltgipfel für humanitäre Hilfe stattfinden wird – eine Premiere –, hat für die Türkei mehr als nur symbolische Bedeutung. Es hat sich viel Frust über die EU aufgestaut. „Wir können das Land nicht in ein offenes Gefängnis verwandeln“, erklärt ein hochrangiger Diplomat im Außenministerium in Ankara. „Wir bringen ein großes Opfer. Wir haben eine Politik der offenen Tür betrieben, wir haben jahrelang Alarm geschlagen und jetzt spielen wir die Schleusenwärter und tun den Europäern einen Gefallen.“ Dies beinhaltet implizit die Drohung, den Flüchtlingsstrom via Bosporus über einen Umweg wieder nach Europa zu lenken.

Neben den 90 Staats- und Regierungschefs, die sich in Istanbul zur globalen Lösung der Flüchtlingsfrage angesagt haben, reist auch Angela Merkel neuerlich in heikler Mission in die Türkei. Die deutsche Kanzlerin hat sich in ein Dilemma manövriert: Sie machte die Türkei in der Flüchtlingskrise zum Schlüsselland, und sie handelte mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Premier Ahmet Davutoğlu namens der EU einen Flüchtlingsdeal aus, der nach einer Einigung für die Visumfreiheit für Türken nun wieder auf der Kippe steht.

In Istanbul muss sie versuchen, den schwierigen Partner Erdoğan auf Linie zu halten. Sie muss ihn zur Räson rufen und ihn zugleich besänftigen. Im Disput um eine Aufweichung der scharfen Antiterrorgesetze nimmt der selbstherrliche „Reis“, der Führer, eine Justament-Position ein. In Europa schaukelt sich die Kritik an seinen autokratischen Allüren, der Aufhebung der Immunität für ein Viertel der türkischen Parlamentarier, der Verfolgung von Oppositionspolitikern und Journalisten derweil immer weiter auf. Eine Abstimmung im deutschen Bundestag zur Verurteilung des Genozids an den Armeniern 1915 könnte nach der Causa Böhmermann vollends zum Bruch mit Berlin führen.

Nach dem erzwungenen Rücktritt Davutoğlus ist Merkels Gewährsmann in Ankara abhandengekommen. Der neue Premier, Binali Yildirim, gilt als Mann von Erdoğans Gnaden. Noch vor wenigen Wochen hatten Merkel und Davutoğlu dem Vorzeigecamp Nizip II unter eher martialischen Bedingungen einen Besuch abgestattet: Zwei Elitesoldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag hielten vom Busdach aus die Lage unter Kontrolle.

Im Kindergarten in Nizip schreien sich die Kinder die Seele aus dem Leib, in der Schneiderei nähen Frauen, auf dem Fußballplatz kommandiert Mehsut, der „Bürgermeister“ in seinem Block im Camp, als Trainer die Buben herum. Jeder hat hier ein Schicksal zu erzählen: die Mutter, die sehnsüchtig auf ihren Sohn wartet, Mehsut, der um seine Schwester in Kilis bangt, und der Englischlehrer Mustafa aus Homs, der zwei Dutzend Verwandte im Krieg verloren hat und der nun nur eines vor Augen hat – die Zukunft seiner Kinder.

In Nizip leben sie am Ufer des blitzblauen Euphrat, eingezäunt wie in einem Käfig und von Posten auf Wachtürmen beäugt, in Sicherheit und doch eingesperrt – und sie haben einstweilen nichts Besseres zu tun, als zu warten und zu beten, dass in Syrien Frieden ausbricht und sie ihr Land wieder aufbauen können. „Inschallah“, fügt ein 20-Jähriger inständig hinzu.

Hinweis

Die Reise erfolgte auf Einladung der Türkei aus Anlass des UN-Weltgipfels in Istanbul.

FAKTEN

UN-Gipfel. In Istanbul findet am 23./24. Mai der erste UN-Gipfel für Nothilfe statt. 90 Staats- und Regierungschefs haben ihre Teilnahme zugesagt.

Flüchtlinge. 2,7 Mio. registrierte Flüchtlinge – der Großteil stammt aus Syrien – leben in der Türkei, ein Zehntel in Camps. Nach den USA und China zählt die Türkei zur drittgrößten Spendernation.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2016)

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