„Außenpolitik wird davon bestimmt, was wir uns dann noch leisten können“

British Union Flag Socks In London
British Union Flag Socks In London(c) Bloomberg (Chris Ratcliffe)
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Ein Brexit würde Großbritanniens Stellung in der Welt völlig verändern. Isolation oder Überkompensation? Experten halten beide Optionen für möglich.

London. Die Meere, wie es in der inoffiziellen Nationalhymne heißt, beherrscht Britannia schon lang nicht mehr, aber der Anspruch, ein Wort in der Weltpolitik mitzureden, ist geblieben. Bis heute gilt, was US-Außenminister Dean Acheson 1962 diagnostiziert hat: „Großbritannien hat ein Weltreich verloren und bis heute keine neue Rolle für sich gefunden.“ Stimmt das Land am 23. Juni für den Austritt aus der EU, wird das auch maßgebliche Folgen für die britische Außen- und Sicherheitspolitik haben.

Großbritannien ist eine der fünf offiziellen Atommächte der Welt mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Als Gründungsmitglied der Nato und größte europäische Militärmacht ist das Land ein Eckpfeiler des westlichen Sicherheitsbündnisses. Zugleich hat Großbritannien einen weltweit aktiven Auslandsgeheimdienst (MI6) und ein großes Arsenal von Soft Power, das von der klassischen Diplomatie über das BBC World Service bis zur Arbeit des British Council reicht.

Von ihrer einstigen Paraderolle ist die britische Diplomatie weit entfernt. Seit 2010 wurde das Budget des Foreign Office um 25 Prozent gekürzt, in einem Bericht warnte das Parlament im Vorjahr, „die Funktionsfähigkeit ist bei weiteren Kürzungen ernsthaft gefährdet”. Zugleich wurden die Botschaften in den vergangenen Jahren zu Servicestellen des britischen Außenhandels umgestaltet. In der Ukraine-Krise und bei anderen geopolitischen Angelegenheiten fällt London seit Jahren vor allem durch betretenes Schweigen auf.

In einer Grundsatzrede würdigte Premierminister David Cameron die Rolle der EU zur Schaffung und Aufrechterhaltung des Friedens in Europa. In der Realität ist Großbritannien aber sehr froh darüber, dass die militärischen Pläne der Union (z. B. WEU) eingeschlafen zu sein scheinen.

Stattdessen setzt Großbritannien in der Verteidigungspolitik auf eine enge bilaterale Zusammenarbeit mit Frankreich und gibt gemeinsam den Ton an. Dass im Frühjahr ein französischer General das Kommando in einer britischen Armeedivision und umgekehrt ein Brite dieselbe Position in den französischen Streitkräften übernommen hat, zeigt, wie vertrauensvoll die einstigen Erzfeinde heute im Alltag zusammenarbeiten. Ebenso eng ist die Kooperation bei Material und Logistik, die 2010 in einem bilateralen Abkommen besiegelt wurde.

Für die USA nur als Mitglied bedeutend

Als zweites Standbein seiner internationalen Beziehungen sieht Großbritannien immer noch die „special relationship“ mit den USA an. Dass Präsident Barack Obama und andere führende US-Politiker massiv für einen Verbleib Großbritanniens in der EU eintreten, hat unter den Gegnern der Union für starke Verstimmung gesorgt. Die Sicherheitsexpertin Xenia Wickett gibt aber zu bedenken: „Dies zeigt, dass die ,special relationship‘ im Niedergang ist und Großbritannien außerhalb der Europäischen Union für die USA ein wesentlich weniger wichtiger Partner wäre.”

Die Experten sind in ihrer Einschätzung eines Brexit gespalten. Anand Menon, Professor am Londoner King's College, meint, es gebe keinen Hinweis darauf, dass ein EU-Austritt Großbritannien in die Isolation führen werde. Im Gegenteil: „Die britische Regierung würde vermutlich alles Denkbare tun, um einen Eindruck der Illoyalität zu zerstreuen.“ Dagegen meint Richard Whitman von der University of Kent: „Der Spielraum wird davon bestimmt, was wir uns nach einem Brexit finanziell leisten werden können.“ Die Regierung habe eine Erhöhung der Militärausgaben und ein paar sehr teure Dinge (Erneuerung der Atom-U-Boote) versprochen. „Das werden wir uns aber nur leisten können, wenn die Wirtschaft läuft.“

Eine bedeutende Rolle spielt auch die Sicherheitszusammenarbeit mit den europäischen Partnern bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus. Großbritannien trat 2013 aus 130 Bestimmungen des Lissabonvertrags aus, um in den darauf folgenden Jahren den wichtigsten wieder beizutreten. Dazu gehören der europäische Haftbefehl, die Polizeizusammenarbeit und die Teilnahme am Schengen Information System, das einen Austausch der Daten über jeden Einreisenden in die EU bietet.

Als Alternative der norwegische Weg

Gerade die EU-Gegner wollen aber mit Schengen nichts zu tun haben. Sie behaupten, dass die offenen Grenzen in Europa dem Terrorismus Tür und Tor öffnen. Zudem kritisieren sie, dass die Mitgliedschaft in der EU die Abschiebung von Straftätern und unerwünschten Ausländern fast unmöglich mache.

Auf die Frage, wie eine sicherheitspolitische Alternative aussehen könnte, wenn Großbritannien tatsächlich aus der EU austreten würde, nennt Whitman das norwegische Modell. „Norwegen ist nicht in der EU, aber in Schengen, in der Nato und assoziiert mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das könnte ein zukünftiges Modell für Großbritannien sein.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2016)

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