„Wer bekommt schon gern einen Tritt in den Hintern?“

Stephen Booth
Stephen Booth Open Europe
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Stephen Booth ist Ko-Direktor des Thinktanks Open Europe und sieht Großbritannien bei Verbleib und Ausstieg in der Zwickmühle.

Sie sagen für den Fall eines britischen EU-Austritts einen Verlust an BIP von 1,5 Prozent voraus. Warum sollte das Land das tun?

Stephen Booth: Es besteht Übereinstimmung unter Ökonomen, dass der Brexit negative wirtschaftliche Folgen haben wird, allein weil der Zugang zum Gemeinsamen Markt verloren gehen wird.

Sie schreiben in Ihrer Studie aber auch, dass es einen Pfad zum Wohlstand außerhalb der EU gebe. Dieser sei jedoch steil und mit unpopulären Maßnahmen verbunden. Wie realistisch ist diese Annahme dann?

Das ist tatsächlich die große Frage. Klar ist, wenn man die EU verlässt und nichts macht, dann kostet das. Also muss man sich überlegen, wie man die Kosten kompensieren und eine positive wirtschaftliche Situation außerhalb der EU schaffen kann. Großbritannien wird individuelle Handelsabkommen abschließen müssen, das wird viel Zeit kosten. Man kann außerhalb der EU wahrscheinlich mehr deregulieren, aber es ist unklar, ob die Menschen wirklich weniger Arbeitnehmerrechte wollen. Unser Punkt ist: Ja, es gibt wirtschaftliche Ausgleichsmaßnahmen, aber sie verlangen schwierige politische Entscheidungen.

Die Regierung hat drei Szenarien nach einem Brexit durchgerechnet: Teilnahme am Gemeinsamen Markt wie Norwegen, bilaterales Abkommen wie Kanada oder kein Abkommen und Handel nach WTO-Regeln. Welches Modell würden Sie bevorzugen?

Die Attraktivität des norwegischen Modells liegt darin, dass die Störungen so klein wie möglich sind. Der Vorteil liegt darin, dass wir im Gemeinsamen Markt bleiben, der Nachteil ist, dass wir nicht mehr mitentscheiden können. Wenn es um die Personenfreizügigkeit geht – und für viele Wähler wird das Thema Immigration entscheidend sein –, wird die EU auf dem Fortbestand der geltenden Regeln bestehen. Wir sehen damit, dass unsere nächsten Schritte nach einem Brexit in jedem Fall mit einer Menge Schwierigkeiten verbunden wären: Die Vereinbarung, die ökonomisch am günstigsten wäre, würde politisch in Kürze genauso unbeliebt sein, wie es heute die EU-Mitgliedschaft ist.

Für ein vorteilhaftes Abkommen braucht Großbritannien auch Entgegenkommen der anderen Seite.

Natürlich. Aber auch ohne Handelsabkommen wird der Handel weitergehen, die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen. Offenbar bietet die EU-Mitgliedschaft Vorteile, insbesondere bei Finanzdienstleistungen und den Zutrittsrechten zum Gemeinsamen Markt.

Ist es da nicht kühn, wenn die EU-Gegner behaupten, Länder wie Frankreich oder Deutschland würden sich geradezu überstürzen, Handelsabkommen mit Großbritannien nach einem Brexit abzuschließen?

Das ist Wunschdenken. Die Handelsbilanz täuscht darüber hinweg, dass der EU-Markt viel mehr für britische Exporteure bedeutet als der britische Markt für EU-Exporteure. Gleichzeitig hat keiner Interesse an großen Handelsbarrieren zwischen der EU und Großbritannien. Großbritannien ist die fünftgrößte Wirtschaftsnation der Welt und wächst. Ich glaube nicht, dass europäische Firmen diesen Markt verlieren wollen. Die Sache bei Gütern recht einfach.

Wie sieht es auf dem Finanzsektor aus?

Das ist ein stark regulierter und umstrittener Sektor und es würde sehr schwierig werden, außerhalb des EU-Rahmens ähnliche Bestimmungen wie die jetzigen zu vereinbaren. Großbritannien ist hier Netto-Exporteur. Aber auch hier geht es in beide Richtungen: Die Tatsache, dass britische Finanzunternehmen ihre Dienste nach Europa verkaufen, zeigt, dass Europa sie braucht. Und wollen umgekehrt die Eurozone und die EU sich von einem Marktplatz trennen, der Zugang zur ganzen Welt bietet?

Die City würde sich bei einem Brexit also anpassen müssen, aber sie würde überleben?

Sicherlich wird es Anpassungen geben müssen. Die Frage ist nicht ob, sondern wie die City überleben würde. Ich glaube, es könnte ein schmerzhafter Prozess sein. Das ist der Bereich, in dem ein Brexit zu den größten Verwerfungen führen würde.

Wenn der Finanzsektor leidet, kann das den oft beschworenen Strukturwandel in Richtung Produktion erzwingen?

Die Anhänger des EU-Austritts sagen, dass der Schock des Brexit notwendig sei, um die britische Wirtschaft mit neuem Leben zu erfüllen. Das ist ein interessanter Gedanke, aber ich glaube nicht, dass man damit viele Stimmen gewinnen kann. Wer bekommt schon gern einen Tritt in den Hintern? Eine erfolgreiche Anpassung außerhalb der EU würde die britische Wirtschaft noch aggressiver, schlanker und globalisierter machen, als sie es bereits ist.

Warum sollen die Wähler dafür stimmen, Opfer zu bringen?

Vergessen Sie nicht, dass wir eine sehr emotionale Debatte erleben und neben der Wirtschaft die Einwanderung das bestimmende Thema ist. Dabei geht es im Grund um die Ablehnung der Globalisierung. Die Ironie ist, dass Großbritannien gegen die EU stimmen könnte und dann, um zu reüssieren, noch mehr globalisiert und offen nach außen sein müsste. Wenn wir aber in der EU bleiben, stellen sich ebenfalls Fragen: Wie können wir unsere Position retten, dass wir gleichzeitig unseren Kuchen haben und essen wollen?

2011
wurde Stephen Booth Ko-Direktor des Thinktanks Open Europe. Zuvor leitete er das Forschungsdepartment von Open Europe.

Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit dem Verhältnis von Großbritannien zur EU. Booth hat sich in vielen Publikationen mit der EU und der Notwendigkeit von politischen und ökonomischen Reformen auseinandergesetzt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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