Für den Sicherheitsexperten Richard Whitman von der University of Kent hat Großbritanniens Abschied von Europa schon begonnen.
Die Presse: Was würde ein Brexit für die nationale Sicherheit Großbritanniens bedeuten?
Richard Whitman: Das Brexit-Lager sagt: Je höher die Mauer, umso mehr können wir üble Dinge draußen halten. Das Verbleib-Lager meint: Nur als Teil eines kollektiven Sicherheitssystems können wir die Herausforderungen erfolgreich bekämpfen.
Was würde ein Brexit für das Land als Militärmacht bedeuten?
Die Regierung hat eine Erhöhung der Militärausgaben und ein paar sehr teure Dinge (z.B. Atom-U-Boote, Anm.) versprochen. Das werden wir uns aber nur leisten können, wenn die Wirtschaft läuft.
Wie könnte nach einem Brexit die Sicherheitszusammenarbeit aussehen?
Norwegen ist nicht in der EU, aber bei Schengen, in der Nato und assoziiert mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das könnte ein künftiges Modell für Großbritannien sein.
Ihr Land ist 2013 mit Fanfaren aus den Bestimmungen zur Sicherheitszusammenarbeit des Lissabon-Vertrags ausgestiegen, nur um sie später durch die Hintertüre zurückzuholen.
Wir haben da in jüngster Zeit eine klare Verschiebung gesehen. Wir suchen uns das aus, was uns gefällt.
Was bleibt bei einem solchen Europa à la carte von der partnerschaftlichen Zusammenarbeit befreundeter Staaten?
Regierungen kommen und gehen, aber Allianzen müssen über lange Zeit gebildet und auf Vertrauen errichtet werden. Wenn man alle gegen sich aufbringt, darf man nicht viel erwarten. Großbritannien hat unter Premierminister David Cameron nicht besonders hart daran gearbeitet, den EU-Partnern den Eindruck zu vermitteln, dass man ihre Sorgen ernst nimmt, etwa in der Eurokrise.
Was ist da geschehen?
Wir sehen klare Veränderungen der diplomatischen Strategie. Seit der frühen 1960er-Jahren wollten wir dabei sein. In den 1980er- und den frühen 1990er-Jahren wollten wir im Zentrum des EU-Projekts stehen. Wenn uns etwas nicht gefiel, verhandelten wir Opt-ins oder Opt-outs. Aber das war noch im Bemühen mitzugestalten.
Und wo steht Großbritannien heute?
Der Bruch, den Cameron herbeigeführt hat, besteht darin, dass die Wahl nicht zwischen dem Status quo und dem Austritt besteht sondern zwischen einer veränderten Art der Mitgliedschaft und dem Austritt. Die im Februar ausgehandelte neue Mitgliedschaft hat zum Inhalt, dass Großbritannien akzeptiert, ein Mitglied zweiter Klasse zu sein, das nicht mehr seine Zugehörigkeit zur EU nützt, die Union mitzugestalten, sondern sich nur mehr das heraussucht, was ihm gefällt.
Heißt das, der Brexit hat eigentlich bereits stattgefunden?
Ja, der sanfte Brexit ist schon passiert, und wir wählen jetzt nur mehr, ob wir auch noch einen harten Ausstieg haben werden. Andere Staaten haben auch Probleme, Frankreich oder Italien etwa, aber sie spielen das politische Spiel. Cameron hingegen hat gesagt: Ich will nicht mehr so tun, als wollte ich dieses erreichen oder jenes verhindern für die EU, sondern lasst uns in Ruhe damit.
Geht es nur um die EU oder sehen Sie auch eine Abkehr Großbritanniens von der Weltbühne?
So weit würde ich nicht gehen. Aber klar ist: Es gibt derzeit keine intellektuell kohärente Position, was Großbritanniens Stellung in der Welt sein soll.
Ist bei einem Brexit der permanente Sitz im UN-Sicherheitsrat in Gefahr?
Großbritannien wird sagen, dass man ihn jetzt sogar umso nötiger braucht, aber andere werden sicher ihre Zweifel anmelden und Fragen stellen.
Manche Ihrer Kollegen meinen, Großbritannien werde nach einem Brexit sein sicherheitspolitisches Engagement sogar verstärken, um den EU-Austritt quasi zu überkompensieren.
Das ist ein interessanter Gedanke, aber am Ende wird entscheidend sein, ob wir uns das überhaupt werden leisten können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2016)