Großbritannien ist keine Weltmacht mehr – und wird auch keine mehr.
Wenn sich Politiker von ihren Staatsbürgern wählen lassen, um Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen, dann aber in einem Referendum die Verantwortung dem Wahlvolk aufhalsen, landen sie in der Bredouille. Das Vereinigte Königreich hat dieses Experiment im Juni durchgeführt.
Inzwischen ist David Cameron dabei, sich als Ministerpräsident und als Vorsitzender der konservativen Partei zurückzuziehen, Jeremy Corbyn von der Labour Party wird ihm wohl in nicht allzu ferner Zukunft ins Ausgedinge folgen. Auch lautstarke Vertreter des Brexit haben sich bereits verabschiedet. Offenkundig wollen sie nicht die Verantwortung für die Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der EU übernehmen.
Die letzten Entscheidungen hat in Großbritannien bisher immer das Parlament getroffen – und dort ist die Verwirrung besonders groß. Denn die Schotten, die ja in Westminster durch ihre Abgeordneten vertreten sind, wollen unter gar keinen Umständen die EU verlassen. In Nordirland drohen jene schweren Auseinandersetzungen wieder aufzuflammen, die mit dem Karfreitagsabkommen unter großen Anstrengungen beigelegt werden konnten. Die weitere Zugehörigkeit von Gibraltar zum Vereinigten Königreich stellt sich da dann nur als ein Miniproblem dar.
Ein Blick in die Schweiz
Die Schweizer haben große Erfahrungen mit Volksabstimmungen. Als Volk von Bergsteigern wissen sie, dass man auch für Volksabstimmungen Sicherungen einbauen muss. Also haben sie das Ständemehr und die Möglichkeiten der Kantone, etwas zurechtzurücken.
Darüber hinaus ist das Sozialforschungsinstitut GFS-Bern unter der Leitung von Professor Claude Longchamp schon seit Jahrzehnten bemüht, Volksabstimmungen zu hinterfragen. Dann können die Repräsentanten des Souveräns noch darüber nachdenken, wie die Volksabstimmungen zu gewichten sind. Auf Großbritannien umgelegt hat sich herausgestellt, dass vor allem die Jungen für einen Verbleib in der EU gestimmt und dass andere Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt haben. Erfahrungsgemäß nützen die Wähler Referenden immer aus, um den Regierenden und ihren Repräsentanten – im konkreten Fall David Cameron – eins auszuwischen.
Boulevard hetzt gegen die EU
Seit Jahrzehnten hetzt die englische Boulevardpresse gegen die Europäische Union, macht aus jeder Bagatelle – etwa der Vorschreibung der Gurkenkrümmung – eine Existenzfrage. Weiters hat sich herausgestellt, dass viele Brexit-begeisterte ältere Engländer glauben, dass nach einem Austritt aus der EU die gute alte Zeit wieder anbrechen wird, England seine Verbindungen zu ehemaligen Kolonien wiederbeleben kann und auch weltpolitisch wieder eine bedeutende Rolle spielen wird.
Bei einer gründlichen Untersuchung der Motive der verschiedenen Wählersegmente, Altersschichten und Parteisympathisanten hat das Parlament nun die Möglichkeit, die Bedeutung des Referendums zu gewichten und es dann auf dem Misthaufen der Geschichte zu entsorgen.
Dass Großbritannien keine Weltmacht mehr ist und auch nicht mehr sein wird, liegt auf der Hand. Für europäische mittelgroße Staaten wie Frankreich, Spanien und Italien gilt Ähnliches. Im Weltmaßstab ist ihr geopolitisches Potenzial heute schon sehr gering und wird beim Aufstieg von Schwellenländern noch geringer werden. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Bestrebungen in Staaten wie Österreich, Ungarn oder Polen, mit Volksabstimmungen die Welt auf den Kopf zu stellen, nicht einmal eine Posse.
Dr. Heinz Kienzl (* 1922 in Wien)
war von 1973 bis 1988 Generaldirektor der Oesterreichischen Nationalbank.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2016)