Brexit: Schottland liebäugelt mit zweitem Referendum

New British Prime Minister Theresa May meeting First Minister of Scotland, Nicola Sturgeon at Bute House in Edinburgh
New British Prime Minister Theresa May meeting First Minister of Scotland, Nicola Sturgeon at Bute House in Edinburgh(c) REUTERS (POOL)
  • Drucken

Regierungschefin Sturgeon will erneut über die Unabhängigkeit Schottlands abstimmen lassen. Die Voraussetzungen dafür sind nicht einfacher geworden.

London. Der Brexit rüttelt an den Fundamenten des Vereinigten Königreichs. Die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, kündigte gestern, Donnerstag, auf dem Parteitag ihrer Scottish National Party (SNP) in Glasgow bereits für die kommende Woche die Veröffentlichung eines neuen Gesetzesentwurfs an – und somit die Durchführung einer neuen Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands. „Ich bin entschlossen, dass Schottland die Möglichkeit haben soll, die Frage der Unabhängigkeit noch vor dem EU-Austritt Großbritanniens neu zu überlegen, wenn dies notwendig sein sollte, um unsere Interessen zu schützen“, sagte Sturgeon.

Die Ankündigung der Regierungschefin wurde von den 3000 Delegierten mit Jubel und Applaus gefeiert. Die Schotten hatten beim Brexit-Referendum mit 62:38 Prozent gegen den Austritt aus der Union gestimmt, und First Minister Sturgeon warnte schon damals: „Der Ausgang des Referendums macht eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands fast unausweichlich.“

Trotz starker Worte steuert die geschickte Taktikerin Sturgeon aber einen vorsichtigen Kurs. Der kommende Gesetzesentwurf dient allein der öffentlichen Konsultation. Erst, wenn das Parlament einen entsprechenden Beschluss fasst, würde realer politischer Druck entstehen. Es besteht aber auch dann keine verfassungsrechtliche Bestimmung, mit der die Schotten gegen den Willen des restlichen Landes eine rechtlich bindende Volksabstimmung erzwingen können. Dennoch meinte Sturgeon gestern: „Niemand soll glauben, dass es mir nicht ernst ist.“ Aber wenn London auf stur schaltet, hat Edinburgh keine Handhabe, eine Anerkennung eines Unabhängigkeitsvotums durchzusetzen.

Ölpreis erschüttert den Haushalt

Mit dem Brexit sind die Voraussetzungen für ein Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten Königreich nicht leichter geworden. Die im Referendum 2014 geplante Beibehaltung des Pfunds in einer Währungsunion wäre nun nicht mehr möglich. Die von den Schotten angestrebte EU-Mitgliedschaft würde einen (Neu-)Beitritt nach Abwicklung des Brexit erfordern. Der Fall des Ölpreises hat den schottischen Haushalt schwer erschüttert, der zuletzt ein nicht gerade EU-konformes Budgetdefizit von 21 Prozent aufgewiesen hat.

Die entscheidenden Worte in Sturgeons Ankündigung waren daher: „Wenn dies notwendig sein sollte.“ Zum „Schutz der Interessen Schottlands“ nannte sie auch Alternativen wie eine Ausweitung der Steuerhoheit, weiteren Zugang zum EU-Binnenmarkt nach dem Brexit und Sonderregelungen für Schottland bei der Regelung der Einwanderung. Es ist nicht vorstellbar, dass London auf diese Forderungen eingehen wird, und auch für Brüssel werden sie wenig praktikabel erscheinen.

Außerhalb der geschlossenen Welt des SNP-Parteitags wollen daher auch die Zweifel an einer Unabhängigkeit Schottlands nicht verstummen. Im September 2014 hatten 55 Prozent gegen die Abspaltung gestimmt, seither haben sich die Umfragen kaum bewegt. Nach einer gestern veröffentlichen Befragung sind aktuell 47 Prozent gegen die Unabhängigkeit, 38 Prozent dafür und zwölf Prozent unentschlossen. Sturgeon weiß genau, dass sie nur mehr eine Kugel in der Patrone hat. Sie hat wiederholt klargemacht, dass sie nur zu einer Volksabstimmung aufrufen wird, wenn sie sich des Sieges sicher sein kann.

„Freibrief für Fremdenfeindlichkeit“

Mit ihrer Ankündigung stellt sich die SNP aber an die Spitze der landesweiten Opposition des Kurses der Londoner Regierung, die offenbar auf einen harten Brexit zusteuert. „Die Tories verwenden das Referendumsergebnis als einen Freibrief für Fremdenfeindlichkeit“, kritisierte Sturgeon. Nach offiziellen Angaben stiegen die gemeldeten ausländerfeindlichen Übergriffe seit Juni um 41 Prozent. Kontrolle über die Einwanderung hat für die britische Regierung Vorrang in den EU-Verhandlungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Der Brexit werde für alle eine Verlustgeschäft werden, sagt Tusk..
Europa

Tusk: EU würde Brexit-Rückzieher akzeptieren

Ein Abbruch der Brexit-Verhandlungen wäre für die Mitgliedsstaaten akzeptabel, sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Europa

Brexit: May umgeht das Parlament

Das britische Höchstgericht behandelt nun eine Klage, mit der Abgeordnete die Mitsprache des Unterhauses beim EU-Austritt durchsetzen wollen.
London und Brüssel feilschen um die Brexit-Bedingungen.
Europa

Brexit: London will keinen Rat von ausländischen Experten mehr

Die britische Regierung verbietet offenbar nicht-britischen Akademikern, Beamte in Brexit-Fragen zu beraten. Sie hat Sicherheitsbedenken.
Außenpolitik

Spanien will sich Gibraltar in den Brexit-Verhandlungen holen

Man müsse sich entscheiden, ob man Briten außerhalb der EU oder Spanisch-Briten innerhalb der EU sein will.
Gastkommentar

Brexit bringt Briten keine Rückkehr in die gute alte Zeit

Großbritannien ist keine Weltmacht mehr – und wird auch keine mehr.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.