Terror in Nizza: Todesfahrt auf der Strandpromenade

(c) APA/AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT
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Massenmord auf zwei Kilometern: Zeugen berichten, wie der Attentäter von Nizza mit einem Lkw ganze Menschengruppen zermalmte und eine blutige Spur des Todes hinterließ.

Die Atmosphäre war fröhlich an diesem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, in Nizza. Zehntausende Einheimische und Touristen bevölkerten wie jedes Jahr die kilometerlange Uferstraße Promenade des Anglais und bewunderten das Feuerwerk, als das Unvorstellbare geschah: Gegen 23 Uhr taucht aus einer Seitenstraße ein weißer Lkw auf, quert die Fahrbahn und biegt nach links in Richtung Osten auf die palmen- und strandgesäumte Promenade. Dort rollt er teils recht langsam, teils mit mehr als 50 km/h, teils auf dem Fußweg, teils auf der Fahrbahn, wo ebenfalls viele Menschen unterwegs sind, und fährt sie rücksichtslos nieder. Passanten werden weggeschleudert wie Kegel, ganze Menschengruppen überrollt.

Der Kanadier Pouya beschrieb, dass Menschenmassen schreiend auseinandergerannt seien. „Ich hatte keine Ahnung, was geschah. Es war surreal, ich blieb wie angewurzelt stehen und dachte, das sei ein Scherz. Dann kam der Lkw auf mich zu und fuhr Schlangenlinien. Er war anfangs kaum 50 Meter weg. Die Zeit fror ein, mein Körper lief irgendwie automatisch davon, und ich sprang durch eine offene Tür in die Wohnung eines Franzosen, der die Tür für Fliehende aufgemacht hatte. Als ich nach einiger Zeit ging, lagen viele Tote auf der Straße.“

Vom Lkw um 20 Zentimeter verpasst

Imad Dafaaoui, Student aus Marokko, sieht, „wie ein Lkw Menschen zermalmt. Ich lief weg, sprang über eine Bank und fiel auf eine Frau. Wir blieben liegen, der Lkw raste heran, ich konnte mich nicht rühren, schloss die Augen und wartete auf den Tod. Der Laster fuhr die Bank um, kaum 20 Zentimeter entfernt, und dann weiter.“ Weitere Zeugen erzählen von umgekippten Rollstühlen und herumliegendem Spielzeug. „Ich wär fast auf eine Leiche getreten“, schrieb jemand auf Facebook, „daneben war ein Yorkshire Terrier. Er gehörte wohl dem Toten. Ich nahm ihn mit. Es sah ringsum aus wie auf einem Schlachtfeld.“

Erst nach etwa zwei Kilometern kommt der Lkw, in dem offenbar nur der Fahrer sitzt, auf der Fahrbahn zum Stehen. Ein Dutzend Männer einer Eingreifgruppe der französischen Polizei aus dem Département Alpes-Maritimes nähern sich, ein Mann in Zivil will eine Tür aufreißen, da schießt der Fahrer heraus, auch auf die Beamten, trifft aber nicht und wird von den Polizisten mit Salven aus Faustfeuerwaffen eingedeckt. Er dürfte sofort tot gewesen sein. Laut Ermittlern handelte es sich bei dem Massenmörder um den gebürtigen Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel (31). Er war wegen Kleinkriminalität polizeibekannt, es gab aber keine Hinweise auf terroristische bzw. islamistische Aktivitäten (siehe Bericht).



Trotz der Zeugenberichte kann man sich nur annähernd ein Bild der totalen Panik machen, die an der Uferpromenade noch länger geherrscht hat. Eltern suchten ihre Kinder, ein Kinderwagen samt Baby ging verloren, wurde aber nach einem Hilferuf auf Facebook von einem Paar, das den Säugling gerettet hatte, den Eltern übergeben. Menschen stießen und rannten, um von der Fahrbahn wegzukommen, auf der zum Teil spärlich bedeckte Leichen, Körperteile und blutende Verletzte lagen. Vorläufige Bilanz: mindestens 84 Tote, darunter zehn Kinder. Rund 200 Verletzte, darunter 54 Kinder, die in Spitäler kamen (siehe Bericht unten). Die Feuerwerke zum Nationalfeiertag ziehen traditionell viele Familien an. Unter den Toten sind auch einige Ausländer, etwa aus den USA, Deutschland und der Schweiz. Zu Österreichern gab es vorerst keine Hinweise.

Ein Luxushotel an der Promenade wurde in ein Lazarett umgewandelt. Anwohner brachten Opfern Decken und Getränke und ließen viele in ihre Wohnungen. Bürgermeister Christian Estrosi ersuchte die Bürger, zu Hause zu bleiben. Bemängelt wird die Panne einer Smartphone-Applikation, mit der das Innenministerium in Echtzeit vor laufenden Terrorakten warnen will. Der Alarm wurde aber erst Stunden später gegeben.

Die Presse Grafik

„Benutzt Lkw wie Rasenmäher“

Die terroristischen Motive des Mannes, der bisher als Einzeltäter galt, stünden fest, sagte Staatspräsident François Hollande und ließ den Notstand für weitere drei Monate verlängern. Zudem würden Reserven von Heer und Gendarmerie mobilisiert, um die völlig überlasteten Polizisten und Gendarmen zu entlasten. Man werde im Kampf gegen den islamistischen Terror nicht weichen, sondern diesen gerade auch in Syrien und im Irak verstärken.

Die Zeitung „20 minutes“ erinnerte derweil daran, dass der IS erst kürzlich dazu aufgerufen hatte, Bürger besonders der USA und Frankreichs zu töten, und zwar durchaus auch so: „Benutzt einen Lastwagen wie einen Rasenmäher. Fahrt in dicht besetzte Zonen mit maximaler Geschwindigkeit, um möglichst großen Schaden anzurichten.“

Nachlese: Unser Live-Bericht zu den Entwicklungen in Nizza vom Freitag:

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