Porträt. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist abgesetzt. Ihr Nachfolger Michel Temer ist noch unpopulärer als sie.
Beim Gruppenfoto des G20-Gipfels in der chinesischen Seidenstadt Hangzhou wird sich am Wochenende ein neues Gesicht unter die Führer der Welt mischen. Auf der Bühne der Weltpolitik, wo seit 13 Jahren Lula und seine Nachfolgerin, Dilma Rousseff, neben George W. Bush und Barack Obama, Angela Merkel und Wladimir Putin posiert haben, wird fortan der langjährige Vizepräsident Michel Temer Brasilien repräsentieren. Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio hatten viele ihr Kommen noch gescheut, weil sie in dem internen Machtdrama um die Amtsenthebung Rousseffs nicht Partei ergreifen und so die suspendierte Präsidentin desavouieren wollten. Am Mittwoch nun wurde Rousseff vom Senat mit 61 zu 20 Stimmen endgültig des Amtes enthoben.
Noch vor seinem Abflug nach China wollte Temer am Mittwochabend in einer Rede an die Nation seine Landsleute auf eine neue Ära einschwören, die Anhänger Lulas und Rousseffs, der Protagonisten der lang dominanten Arbeiterpartei, beschwichtigen und die Proteste in Brasilia, Rio und São Paolo eindämmen. Seine große Mission sei es, so hatte er es schon in seiner Antrittsrede als Interimspräsident vor wenigen Monaten proklamiert, das Land zur Ruhe zu bringen und zu einen.
Für die Brasilianer ist der bald 76-Jährige mit dem soignierten Äußeren und dem akkurat zurückgekämmten Haar ein wohlbekanntes Gesicht, gilt als Symbolfigur der alten Elite. Seit Ende der Militärdiktatur vor mehr als drei Jahrzehnten mischt der jüngste Sohn libanesischer Einwanderer aus São Paolo als einflussreicher Drahtzieher im Hintergrund in der Politik mit. Als Parlamentspräsident und als Chef der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) erwarb er sich den Ruf des Königsmachers, der als Juniorpartner der Arbeiterpartei in Brasilia zur Macht verhalf.
Als Stellvertreter Dilma Rousseffs betrieb der gewiefte Taktiker indes seit mindestens einem Jahr den Sturz der Präsidentin. Erst stellte er unter dem Titel „Eine Brücke in die Zukunft“ ein Reformprogramm vor, das die Finanz- und Sozialpolitik der Regierung zerzauste. In einem Brief an die Präsidentin lamentierte er danach über die lediglich dekorative Funktion seines Amts, ehe er den offenen Bruch vollzog und im März die Koalition aufkündigte, um im Parlament die Intrigen gegen die angeschlagene Regierungschefin zu spinnen. Nach einem langwierigen Verfahren hat dies letztlich mit der Amtsenthebung der Präsidentin geendet, die ihn prompt seit Monaten als „Verräter“ punziert, als Kopf einer groß angelegten Verschwörung.
Ex-Schönheitskönigin als Frau
Die Phase der Übergangsregierung unter seiner Führung, die er mit einem breiten Lächeln antrat, stand freilich alles andere als unter einem guten Stern. Erstmals seit Jahrzehnten ist keine einzige Frau auf einem Ministerposten gesessen, und Temer hat nur ältere, weiße Männer – Vertreter der Oligarchie, wie er selbst einer ist – in die Regierung berufen. Innerhalb weniger Wochen zwangen Skandale gleich drei Minister zum Rücktritt. Sein Kurs einer rigorosen Sparpolitik, Einschnitte bei den Sozialprogrammen und Steuererleichterungen für Reiche haben die Polarisierung Brasiliens weiter verschärft. Michel Temer gilt ohnedies als überaus unpopulär, noch unbeliebter als Dilma Rousseff. Bei einer Wahl würden Umfragen zufolge nur zwei bis drei Prozent für ihn votieren.
In die Klatschspalten schafft es der Jurist mit der Affinität für die Dichtkunst derweil vor allem dank seiner Frau Marcela, einer 43 Jahre jüngeren Ex-Schönheitskönigin, die ihn um beinahe einen Kopf überragt. Mit ihr hat der Vater von fünf Kindern aus früheren Beziehungen einen kleinen Sohn, Michelzinho.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2016)