"Jedem Abbruch geht ein großes Drama voraus"

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Anne Zohra Berrached, Regisseurin des Films „24 Wochen“, spricht über die Zwickmühle, in der sich Eltern befinden, wenn sie während der Schwangerschaft von einer möglichen Erkrankung ihres Kindes erfahren.

Vor ein paar Jahren hat eine Mutter ihren Frauenarzt verklagt, weil er während ihrer Schwangerschaft nicht erkannt hat, dass das Kind höchstwahrscheinlich mit dem Downsyndrom auf die Welt kommen wird. Sie argumentierte damit, dass sie bei entsprechender Aufklärung die Schwangerschaft wohl abgebrochen hätte, und bekam Recht. 2500 Euro im Monat muss seither die Versicherung des Arztes an die Frau zahlen – so lange das Kind lebt. Was halten Sie von so einem Urteil?

Anne Zohra Berrached: Es gibt einige vergleichbare Fälle, auch in Deutschland. Natürlich kannst du das Leben eines Menschen niemals mit Geld aufwiegen. Selbst dann nicht, wenn die Mutter eine Million Euro pro Monat kriegen würde.


Falls ein Baby mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit mit Downsyndrom auf die Welt kommen würde, raten die Ärzte ja zu einem Schwangerschaftsabbruch . . .

Das würde ich nicht so unterschreiben. Sie raten dazu, sämtliche Untersuchungen zu machen, um so viel wie möglich über die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung zu erfahren. Aber wenn es um die Entscheidung einer Abtreibung geht, halten sie sich meiner Erfahrung nach eher zurück. Schließlich sind sie es selbst, die diese Spätabtreibungen durchführen müssen.


Rund 90 Prozent der Frauen entscheiden sich jedenfalls in so einem Fall für einen Schwangerschaftsabbruch. Beinahe jede Frau also. Denken Sie, dass sich die Eltern jedes Mal in einem so großen Dilemma befinden wie das Paar bzw. die Familie in Ihrem Film?

Ja, ich bin überzeugt davon, dass jeder späten Abtreibung ein Dilemma vorausgeht. Keine Familie fällt diese Entscheidung leichtfertig. Gerade nach der zwölften Woche spürst du als Mutter das Kind, bekommst seine Bewegungen mit und dergleichen. Ich habe zum Beispiel viele Briefe von Frauen bekommen, die sich gerade in so einem Dilemma befinden und mir ihre Geschichte erzählt haben. Und das, obwohl der Film noch nicht einmal angelaufen ist. Sie hätten den Film am liebsten so schnell wie möglich gesehen. Egal, ob man sich für oder gegen das Kind entscheidet, es ist eine Entscheidung, die dich dein Leben lang begleiten wird. Glauben Sie mir, da spielen sich die größten Dramen ab.


Haben Sie auch einmal daran gedacht, einen Film zu machen, der nicht von einer Abtreibung nach dem dritten Monat, sondern von einem Abbruch vor dieser Regelzeit handelt – ohne die Krankheiten der ungeborenen Kinder?

Nein, es ging mir immer um das Thema einer legalen späten Abtreibung. Weil davon die meisten gar nichts wissen. Auch ich wusste nicht, dass dieses Gesetz existiert. Schon bei einem Downsyndrom können sich die meisten Frauen und Familien ein Leben mit einem solch besonderen Kind nicht vorstellen. In „24 Wochen“ allerdings entscheidet sich das Paar, gespielt von Julia Jentsch und Bjarne Mädel, für das Kind mit Downsyndrom, und später bei der – bei einem Downsyndrom so häufig auftretenden – Diagnose Herzfehler kommen Zweifel auf.


Der Herzfehler sollte die Zwickmühle des Paares also noch schwieriger, noch nachvollziehbarer machen?

Ja, ich wollte dramaturgische Kniffe anwenden, um eine Situation zu vermeiden, in der die Zuschauer das Paar nicht mögen, weil sie über eine Abtreibung nachdenken. Je kranker das Baby wird, desto eher will es der Vater bekommen, die Mutter hingegen entwickelt immer mehr Zweifel. Sie bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen. Das habe ich auch in der Realität oft beobachtet. Es gibt immer mehrere Gründe für oder gegen eine Abtreibung. Beispielsweise fühlt die Mutter in „24 Wochen“ eine gewisse Verantwortung, ihrem Kind Leid ersparen und deswegen abtreiben zu müssen. Großmütter wollen wiederum ihre Kinder schützen und raten zum Abbruch. Das ist gleichzeitig natürlich auch eine ichbezogene, egoistische Haltung.


Angeblich endet beinahe jede zweite Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt. Dabei sprechen wir nur von jenen Schwangerschaften, die die Eltern überhaupt mitbekommen. Wussten Sie das?

Nein. Ich wusste, dass die Quote hoch ist, aber nicht, dass sie so hoch ist.


Die wenigsten wissen das, obwohl solche Informationen doch eigentlich zum Allgemeinwissen gehören sollten. Sind Fehlgeburten immer noch ein derartiges Tabuthema?

Ja, Fehlgeburten wie auch Abtreibungen sind ein gesellschaftlich gemiedenes Thema. Deswegen habe ich den Film auch gemacht. Damit mehr darüber gesprochen wird. Denn es gibt weltweit keinen vergleichbaren Film über legale Spätabtreibungen, der in der Gegenwart spielt. Seit der Film auf Festivals läuft, kommt ständig jemand zu mir, der direkt oder indirekt damit zu tun hatte. Fast jeder ist betroffen, der schon einmal schwanger war und sich Gedanken gemacht hat, ob das Kind vielleicht eine Krankheit haben könnte. Bei den Publikumsgesprächen nach den Vorführungen wollten die Zuschauer gar nicht mehr nach Hause gehen. Sie stellten nicht nur Fragen an mich, wie das sonst nach diesen Vorführungen üblich ist, sondern wollten ihre Geschichte erzählen. Und das Thema wird künftig noch viel präsenter werden, denn Pränataldiagnostik wird immer besser, und es wird immer leichter werden, Krankheiten zu erkennen und Kinder abzutreiben.

Steckbrief

1982 wurde Anne Zohra Berrached in Erfurt geboren. Nach ihrem Studium der Sozialpädagogik war sie zwei Jahre als Theaterpädagogin in London tätig, ehe sie ein halbes Jahr in Kamerun und ein weiteres halbes Jahr in Spanien lebte. Nach ihrer Rückkehr studierte sie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.

2013 gewann sie für ihren ersten abendfüllenden Spielfilm „Zwei Mütter“ den Preis der Perspektive Deutsches Kino der 63. Filmfestspiele Berlin. Ihr zweiter Film „24 Wochen“, der von Abtreibung handelt, kommt am 23. September in Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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