Das harte Los der Kinderbräute

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Alle sieben Sekunden muss irgendwo auf der Welt ein Mädchen heiraten, das jünger als 15 Jahre ist. 1,2 Milliarden Mädchen könnten bis 2050 in Zwangsehen leben, so Save the Children.

Tamrea war an ihrem Hochzeitstag zwölf Jahre alt. „Ich habe die ganze Feier lang geweint“, erinnert sich die junge Äthiopierin heute. „Ich war verzweifelt, ich hatte Angst.“ Ihren künftigen Ehemann hatte das Kind nur ein einziges Mal vor ihrer Vermählung gesehen – und auch das nur flüchtig: Kurz vor dem Fest kam der Mann gemeinsam mit seiner Familie in ihr Haus. „Er war sehr groß. Und alt. Ich weiß gar nicht, wie alt genau.“

Das Mädchen war von ihrem Vater zur Ehe gezwungen worden. „Meine Mutter war tot, er sagte, er könne sich nicht um mich kümmern.“ Tamrea protestierte – es half nichts. Bald nach ihrer Hochzeit wurde sie schwanger. Das Baby kam daheim zur Welt. Und bald darauf verschwand der Ehemann. „Ich war froh, dass er weg war. Ich bin glücklich mit meinem Baby. Aber niemand sollte mit 12 heiraten. Da geht man in die Schule.“

700 Millionen Kinderbräute

Tamreas Schicksal als Kinderbraut teilen hunderte Millionen Mädchen, dokumentiert ein Bericht der Kinderrechtsorganisation Save the Children, der anlässlich des gestrigen Weltmädchentages veröffentlicht wurde. Jedes Jahr heiraten weltweit 15 Millionen Minderjährige, in den allermeisten Fällen werden sie zur Hochzeit gezwungen. Insgesamt sind derzeit 700 Millionen Mädchen davon betroffen. Alle sieben Sekunden wird irgendwo auf der Welt ein Mädchen getraut, das jünger als 15 Jahre ist. In Ländern wie Afghanistan, Jemen, Somalia und Indien sind viele Kinder an ihrem eigenen Hochzeitstag erst zehn Jahre alt. Die UNO schätzt, dass bis 2050 1,2 Milliarden Mädchen unter 18 Jahren in Zwangsehen leben könnten.

„Kinderehen sind der Beginn eines Teufelskreises“, betont Helle Thorning-Schmidt, Chefin von Save the Children: Verheiratete Mädchen verlassen fast immer die Schule – mangelnde Bildung führt zu Abhängigkeit vom Ehemann und Armut. Daheim werden diese Kinderbräute oft Opfer von Gewalt. Viele werden von ihren Männern mit  Krankheiten wie Aids infiziert. Zudem ist die Schwangerschaft für die Mädchen oft lebensbedrohlich.

Kultur und Tradition sind freilich oft ein Grund, warum Kinder früh verheiratet werden. Doch der Bericht zeigt, dass andere Faktoren eine weitaus bedeutendere Rolle spielen: In ärmeren oder von Konflikten sowie anderen Krisen betroffenen Gebieten werden weitaus mehr Mädchen zur Ehe gezwungen, als in wohlhabenden, friedlichen Gegenden. In Nigeria etwa sind 40 Prozent der armen Mädchen bereits mit 15 Jahren verheiratet, unter reichen Nigerianerinnen hingegen nur etwa drei Prozent.

Wie stark sich Krieg auf frühe Eheschließungen auswirkt, zeigt der Konflikt in Syrien: 2015 hatte etwa ein Viertel der minderjährigen syrischen Flüchtlingsmädchen in Libanon und Syrien einen Ehemann. In der Hochzeit würden viele Familien den einzigen Weg sehen, ihre Töchter vor sexueller Gewalt und Armut in Kriegszeiten zu schützen, heißt es im Bericht.

So war es auch bei Sahar, die mit ihren Eltern aus Syrien in den Libanon geflohen ist. Die 14-Jährige musste vor einem Jahr einen 20-jährigen Mann heiraten, den sie gar nicht kannte. Jetzt ist sie schwanger. „Ich freue mich auf mein Baby. Aber ich bin doch selbst noch ein Kind, ein Kind mit einem Kind“, sagt sie einem Mitarbeiter von Save the Children. Sahar ging früher in Syrien in die Schule. Davon träumt sie auch heute noch – ebenso wie davon, selbst noch eine Zeitlang Kind sein zu dürfen.

Viele Kinderehen in Indien

Das Land mit den allermeisten Kinderbräuten ist allerdings Indien: Dort müsse fast die Hälfte der Mädchen (47 Prozent) unter 18 Jahren heiraten, streicht der Bericht hervor. Es sind vor allem Mädchen aus den konservativen, ärmeren Gegenden auf dem Land, die von ihren Eltern zur Ehe gezwungen werden – meist wegen der Aussteuer.

Auch Selvi aus Südindien wurde vor etwa zehn Jahren an einem Mann verheiratet, sie war damals erst 14. Ihr Ehemann vergewaltigte sie, zwang sie zur Prostitution. Lange dachte das Mädchen an Selbstmord, doch dann beschloss sie, sich zu wehren und ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen: Sie ergriff die Flucht. In der südwestindischen Stadt Mysore kam sie in einem Haus für Gewaltopfer unter. Dort lernte sie zu lesen, zu schreiben – und Auto zu fahren. Heute arbeitet Selvi als allerste Taxifahrerin in der Geschichte Indiens.

Selvis Geschichte wird nun in einem Dokumentarfilm der Regisseurin Elisa Paloschi erzählt. Gemeinsam mit Selvi will Paloschi durch die ländlichen Gebiete Südindiens reisen, um dort den Film zu zeigen: „Viele Mädchen in diesen Gebieten wissen gar nicht, dass auch sie Träume haben dürfen“, sagte sie bei der Filmvorstellung in London. „Selvi beweist nicht nur, dass man durchaus träumen darf. Sondern auch, dass man diese Träume umsetzen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2016)

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