Comicverfilmungen: Es muss nicht immer ein Superheld sein

Ad`ele Exarchopoulos und L´ea Seydoux in „Blau ist eine warme Farbe“.
Ad`ele Exarchopoulos und L´ea Seydoux in „Blau ist eine warme Farbe“.(c) Cineart
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Comicverfilmungen sind, spätestens seit Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ in Cannes die Goldene Palme errungen hat, in der Kinohochkultur angekommen – und bieten weit mehr als Übermenschen im Spandex-Kostüm.

Früher waren Comics an allem schuld, nun sind es Comicverfilmungen: die Verrohung der Jugend, die Verdummung der Massen, der Untergang des Abendlandes. Seit DC und Marvel zu Leinwandmarken avanciert sind, werden Filmadaptionen von Comicfiguren landläufig mit Superheldenblockbustern gleichgesetzt, die (ungeachtet ihrer Stärken und Schwächen) tatsächlich ein Marktmonopol im Gegenwartskino besetzen. Ihr Fokus auf Effektexzesse, Mangel an narrativer Originalität und die regelrecht imperialistische Expansion ihrer jeweiligen Universen – kommenden Donnerstag etwa eröffnet mit „Doctor Strange“ eine weitere Zweigstelle des Marvel'schen Kinokosmos – haben Laufbild-Aneignungen der neunten Kunst in Verruf gebracht. Diesem ungerechten Umstand will diese Ausgabe der „Presse“-Streaming-Tipps etwas entgegensetzen, mit einer Handvoll Beispiele für die inhaltliche und stilistische Vielfalt der Begegnungen zwischen den in vielerlei Hinsicht blutsverwandten Medien Comic und Film. Das Genre, wenn man es so nennen will, bietet auch jenseits von Übermenschen im Spandex-Kostüm Sehenswertes – schließlich denkt man auch bei Literaturverfilmungen nicht nur an Kostümschinken.

Blau ist eine warme Farbe

Mit dem Goldpalmen-Sieg von Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ bei den 66. Filmfestspielen von Cannes sind Comicverfilmungen endgültig in der Kinohochkultur angekommen. Kechiche breitete Julie Marohs melancholische Coming-of-Age-Erzählung über eine lesbische Jugendromanze zu einem knapp dreistündigen, gefühlsintensiven Liebesepos aus (im Original heißt der Film „La vie d'Adèle – Chapitres 1 et 2“). Die Sexszenen zwischen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos sorgten für Kontroversen, die Autorin der Vorlage distanzierte sich – aber die Stärken des Films liegen ohnehin in seiner gleichermaßen überhöhten wie naturalistischen Darstellung der Achterbahnfahrten jugendlichen Begehrens. Sky Go

Road to Perdition

Von Sam Mendes, 2002

Auch die großen Verlage produzieren Comics abseits von Superhelden: 1998 etwa veröffentlichte DC „Road to Perdition“ von Max Allan Collins und Richard Piers Rayner. In Anlehnung an den japanischen Samuraimanga-Klassiker „Lone Wolf & Cub“ handelt das Buch von einem Mafia-Auftragskiller während der US-Depressionsära, der mit kleinem Sohn im Schlepptau vor seinen Auftraggebern flüchten muss. Oscarpreisträger und nunmehriger James-Bond-Hausregisseur Sam Mendes lieferte die Filmadaption: eine spannende, stilisierte Hommage an altes Gangsterkino, mit Tom Hanks in der Hauptrolle und Paul Newman als Oberboss. Netflix

Sin City

von Robert Rodriguez, 2005

Frank Miller ist der Übervater sämtlicher Verfinsterungstendenzen im zeitgenössischen Superheldenblockbuster. Ohne seine Batman-Revision „The Dark Knight Returns“ wäre Christopher Nolans Kassenschlager-Trilogie um den dunklen Ritter undenkbar. Doch die einzige wirklich werktreue Umsetzung seines zwischen Pulp-Exzess und Pop-Expressionismus schlingernden Stils ist „Sin City“. Robert Rodriguez drehte fast alle Szenen dieser grotesken Neo-Noir-Varieté-Show (mit Charakterköpfen wie Bruce Willis und Mickey Rourke) vor einem Greenscreen, um der knallig-kontrastreichen Schwarzweiß-Ästhetik der Vorlage gerecht zu werden – und das Ergebnis wirkt tatsächlich, als hätte jemand Millers Panels zum Leben erweckt. Amazon

Snowpiercer

Eine Zugfahrt, die ist lustig, eine Zugfahrt, die ist schön. Es sei denn, man kann nicht aussteigen, weil sich die Welt ringsum in eine unwirtliche Eiswüste verwandelt hat, und sitzt unter erbärmlichen Bedingungen im allerhintersten Waggon fest, wo der Speiseplan aus Kakerlakenriegeln besteht. Da bleibt einem buchstäblich nur noch die Flucht nach vorn, wo die 1. Klasse unbekümmert einen draufmacht. Die französischen Comic-Künstler Jacques Lob und Jean-Marc Rochette schufen 1982 mit dem Sci-Fi-Bildband „Le Transperceneige“ eine filmreife dystopische Parabel: eine feudalistisch parzellierte, unaufhaltsame Schnellbahn als markante Metapher für die Kasten- und Ausbeutungssysteme des Turbokapitalismus. Jahre später fand ihr Werk den Weg in die Hände des südkoreanischen Regietalents Bong Joon-ho („The Host“) und inspirierte ihn zu seiner ersten internationalen Koproduktion. „Snowpiercer“ (mit Chris Evans, Ed Harris, Kang-ho Song, Tilda Swinton, John Hurt, Jamie Bell) ist nicht ganz so düster wie seine Vorlage, dafür ein kraftvoll voranpreschender, einfalls- und detailreicher Stilmix aus Action, Drama und Sozialkritik, der seinen beengenden Schauplatz inszenatorisch gekonnt zu nutzen weiß. Amazon, Netflix, Flimmit (ab € 4,99)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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