„Thiem wird einen Grand Slam gewinnen“

Austria's Dominic Thiem in action during his round robin match with Canada's Milos Raonic
Austria's Dominic Thiem in action during his round robin match with Canada's Milos RaonicREUTERS
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Andy Murray und Novak Djoković bleiben die ersten Anwärter auf die wichtigsten Trophäen. Hinter dem Duo schickt sich aber bereits eine neue Generation rund um Dominic Thiem an, die Rangordnung im Welttennis auf den Kopf zu stellen.

Der Tennissport befindet sich im Wandel, man könnte sogar von einer Revolution sprechen. Vor zwei Wochen hatte Andy Murray erstmals in seiner Karriere Platz eins in der Weltrangliste übernommen, Novak Djoković musste den Platz an der Sonne widerwillig räumen. Der Schotte, 29, spielt die beste Saison seines Lebens, sieben Titel auf der ATP-Tour belegen das. Und auch das Olympische Gold aus Rio de Janeiro, sein zweites nach London 2012, macht sich gut in der Vitrine. Im Grunde hatte Murray viel zu lange auf die Besteigung des Throns warten müssen. Mancher hatte ihn bereits als die beste Nummer zwei aller Zeiten abgestempelt.

Als der bisherige Branchenprimus Djoković im Juni dieses Jahres erstmals bei den French Open in Paris triumphierte und damit alle vier Grand-Slam-Titel gleichzeitig hielt, schien Murrays Schicksal und seine Rolle im Welttennis bis auf Weiteres besiegelt. Zu dominant agierte der Serbe, zu groß schien sein Vorsprung auf die Konkurrenz. „Nach den French Open war ich mir zu 98 Prozent sicher, dass Djoković auch am Ende des Jahres die Nummer eins sein wird“, sagt Fabrice Santoro.

Der Franzose, einst selbst erfolgreicher Profi und Nummer 17 der Rangliste, sollte mit seiner Einschätzung nicht allein sein, sie klang schließlich plausibel: „Andy musste, um an die Spitze zu gelangen, unglaublich gut spielen. Und Novak musste viele Matches verlieren. Genau das ist eingetreten.“


Stete Entwicklung. Für Santoro, der mittlerweile für das französische Fernsehen als TV-Experte arbeitet und den „Die Presse am Sonntag“ am Rande der ATP World Tour Finals in London traf, ist Murray freilich eine würdige Nummer eins. „Ich bin nicht überrascht, dass er es geschafft hat, vielleicht etwas über den Zeitpunkt. Aber eines Tages musste es ihm einfach gelingen.“ Der Brite wird an der Spitze überwintern, sofern er in London besser als Djokovic abschneidet. Wie lange seine Regentschaft andauern könnte, lässt sich nur spekulieren. Diese Frage sei „unmöglich zu beantworten“, meint Santoro. Fakt ist: Murray hat sich in der jüngeren Vergangenheit, auch dank der erneuten Zusammenarbeit mit Trainer Ivan Lendl, zu einem kompletteren, noch besseren Spieler entwickelt. „Er hat seinen Aufschlag und seine Vorhand auf das nächsthöhere Level gebracht, beherrscht jeden Schlag. Und er ist physisch so unglaublich stark.“

Die körperliche Präsenz, diese Mixtur aus Kraft und Ausdauer, sie ist beeindruckend, sogar einschüchternd. Diesbezüglich spielen Murray und Djoković in einer eigenen Liga, hat der Rest der Weltklasse Aufholbedarf. Allerdings, es handelt sich stets um Momentaufnahmen. Speziell die Off-Season, also die Zeit des kurzen Urlaubs und der harten Vorbereitung auf die neue Saison, kann dazu genutzt werden, Rückstände zu reduzieren und zur Gegnerschaft aufzuschließen.

Wenn am 2. Jänner in Brisbane, Doha und Chennai das Turnierjahr 2017 eingeläutet wird, dann ist Murray der große Gejagte. „Es ist schwierig, an die Spitze zu kommen, aber noch schwieriger, dort zu bleiben“, sagt Santoro. Djoković weiß, wovon sein ehemaliger Kollege spricht. Der Becker-Schützling führte insgesamt 223 Wochen die Weltrangliste an, nur Roger Federer, Pete Sampras, Ivan Lendl und Jimmy Connors regierten länger. „Aber irgendwann wirst du müde von all diesen Anstrengungen. Du bist ständig am Arbeiten, bist 24 Stunden am Tag professionell. Djoković musste einen unglaublichen Aufwand betreiben, um so lange Nummer eins zu sein. Vielleicht war er nach Paris einfach zu erschöpft“, mutmaßt Santoro.


Welle an Hochtalentierten. Murray und Djoković haben in der näheren Zukunft jedenfalls mit geballter Gegenwehr zu rechnen. Neben den üblichen Verdächtigen wie Stan Wawrinka, Milos Raonic oder Kei Nishikori schickte sich 2016 bereits eine neue Generation außergewöhnlicher Youngsters an, die Rangordnung im Welttennis kräftig durcheinanderzuwirbeln. Der Australier Nick Kyrgios (21) oder der Deutsche Alexander Zverev (19) gelten in ihrer Heimat als Jahrhunderttalente, Frankreich vertraut auf die Durchschlagskraft von Shooting Star Lucas Pouille (22). Die Liste der potenziellen Superstars von morgen umfasst auch Borna Ćorić (20, Kroatien), Kyle Edmund (21, Großbritannien), Karen Khachanov (20, Russland) oder Taylor Fritz (19, USA).

Österreichs Beitrag zur Weltklasse, Dominic Thiem, ist den von der ATP als Young Guns promoteten Spielern derzeit noch einiges an Erfolgen und Erfahrung voraus. Der 23-Jährige war in London der jüngste aller acht Teilnehmer, mit seinem Sieg über Gaël Monfils in der Gruppenphase setzte er abermals ein Zeichen. Santoro ist ein aufmerksamer Beobachter Thiems, er schätzt Schläge und Persönlichkeit des Lichtenwörthers. „Dominic ist ein sehr, sehr netter Kerl, ein harter Arbeiter und ein ausgezeichneter Spieler“, schwärmt der Franzose und prophezeit dem Lichtenwörther eine große Zukunft. „Ich glaube, er wird in den nächsten zwei Jahren ein Grand-Slam-Turnier gewinnen. Es würde mich überraschen, wenn es nicht so wäre.“ Die „wahrscheinlich besten Chancen“ habe Thiem demnach in Paris.

Speziell der Erfolgslauf in der ersten Jahreshälfte hatte Santoro beeindruckt, ab Juli erlitt der Rechtshänder dann einen deutlichen Einbruch. „Aus meiner Sicht hat er zu viele Turniere und Matches bestritten, er hat auf mich körperlich und geistig müde gewirkt.“ Eine Ansicht, die Thiems Coach, Günter Bresnik, nicht teilt. Der 55-Jährige hatte den dichten Turnierplan stets verteidigt, dieser könnte auch 2017 ähnlich aussehen. „Körper und Geist sollten sich an die enormen Belastungen gewöhnen“, meinte Thiem, in London darauf angesprochen, und ergänzte: „Es war mein erstes Jahr, in dem ich über 80 Matches gespielt habe. Dass ich irgendwann einen Rückfall erleide, ist normal.“

Zur Person

Fabrice Santoro (43) gewann in seiner Karriere sechs Einzel-Titel, seine beste Position in der Weltrangliste erreichte er 2011 mit Platz 17.

Santoro trug den Spitznamen „Magier“, seine Spielweise war speziell. Der Franzose spielte Vorhand und Rückhand beidhändig, selbst beim Volley.

Er galt zudem als ausgezeichneter Doppelspieler, zwei Titel bei den Australian Open (2003, 2004) zeugen davon. Mittlerweile arbeitet Santoro als TV-Experte.
?Reuters

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2016)

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