Fehlzeitenmanagement ist nicht des Teufels

Das Thema Krankenstand darf nicht gänzlich zur Privatsache werden.

Die mediale und politische Aufregung um das systematische Fehlzeitenmanagement der ÖBB ist groß. Die Aufregung ist auch durchaus berechtigt, jedenfalls in dem Maße, als dabei Missbrauch betrieben wurde. Das soll in keiner Weise verharmlost werden. Mit extremen Beispielen mediale Aufmerksamkeit zu erregen, ist aber allzu einfach. Die Aufregung ist zugleich in hohem Maße scheinheilig, und die Reaktionen sind äußerst einseitig.

Wahr ist natürlich, dass Mitarbeiter mit überdurchschnittlich vielen Krankenständen immer und überall – mit und ohne Fehlzeitenmanagement – geringere Aufstiegschancen und ein weit höheres Kündigungsrisiko haben. Wahr ist auch, dass Krankenstände eine Vielzahl von Ursachen haben – oftmals solche, die unmittelbar mit dem Arbeitsplatz zusammenhängen: ungesunde Arbeitsbedingungen, Über- und Unterforderung, Ausbeutung, Mobbing etc. Das Resultat sind oftmals Stresssymptome und psychische Erkrankungen aller Art. Gelöst werden können derartige Probleme vor allem durch eines: durch Veränderungen am Arbeitsplatz.

Umgekehrt wissen wir, dass Arbeitnehmer ungern über derartige Erkrankungen sprechen und auch die Ursachen – so sie ihnen überhaupt bewusst sind – nicht ansprechen. Im Widerspruch zu den vielen empörten Äußerungen der letzten Tage und Wochen gilt daher: Ein modernes Fehlzeitenmanagement ist nicht nur nicht das Böse schlechthin, sondern vielmehr absolutes Gebot der Stunde.

Ziel: Rasche Rückkehr in den Beruf

Viel zu viele Arbeitnehmer erleiden ein Schicksal, das durch rechtzeitiges Eingreifen oftmals hätte verhindert werden können: lange und/oder wiederholte Krankenstände, ein schrittweises Entfernen vom Arbeitsmarkt, in der Folge oftmals Langzeitarbeitslosigkeit und am Ende allenfalls eine Invaliditätspension. Letztere wird heute in den meisten OECD-Ländern und auch in Österreich in drei bis vier von zehn Fällen wegen psychischer Erkrankungen zugesprochen. All das ist ein Drama für den Betroffenen und ein massives und kostspieliges Problem für die Gesellschaft.

Jüngere Untersuchungen zeigen, dass Inaktivität und Arbeitslosigkeit der psychischen Gesundheit massiv schaden und dass eine rasche Rückkehr ins Erwerbsleben umgekehrt zu einer rascheren Genesung beiträgt – so sich die Bedingungen am Arbeitsplatz ändern. Das Ziel einer betrieblichen Gesundheitsvorsorge, Hand in Hand mit einem aktiven Fehlzeitenmanagement, ist es, eine gesundheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zu verhindern.

Die viel kritisierten Krankenstandsrückkehrgespräche sind dabei nicht des Teufels, sondern absolut notwendig. Nur im Gespräch können Ursachen von Problemen lokalisiert und kann allenfalls, so möglich, Abhilfe geschaffen werden. Im Mittelpunkt solcher Gespräche steht natürlich nicht die Krankheitsdiagnose, sondern die Suche nach Ursachen und möglichen Auswegen. Ansprechpartner kann der Vorgesetzte sein oder aber eine Vertrauensperson in der Personalabteilung und/oder eine Betriebsärztin. Auch ein Einbinden der behandelnden Hausärzte ist in vielen Fällen sinnvoll. Aus (haus-)ärztlicher Sicht scheint eine Verlängerung des Krankenstandes oftmals unausweichlich – gerade weil die Bedingungen am Arbeitsplatz sich nicht von ärztlicher Seite ändern lassen.

Der Sinn eines gezielten Fehlzeitenmanagement ist ganz sicher nicht, Kranke auszusondieren und Mitarbeiter dazu zu verleiten, mit 39 Grad Fieber am Arbeitsplatz zu erscheinen oder Bandscheibenoperationen im Urlaub vorzunehmen. Das ÖBB-System hat den eigentlichen Sinn leider pervertiert; viele ÖBB-Manager haben offenbar Informationen missbraucht, anstatt sicherzustellen, dass die Krankenstandsursachen möglichst beseitigt werden. Denn nur damit kann ein Betrieb langfristig von einem systematischen Fehlzeitenmanagement profitieren: durch Sicherstellung der vollen Nutzung des Potenzials jedes Mitarbeiters. Andernfalls würden Probleme lediglich perpetuiert: Wenn ein Kranker wegen zu hoher Kosten „aussortiert“ wurde, wird am gleichen krankmachenden Arbeitsplatz mit guten Aussichten ein neuer Kranker „produziert“.

Gerade dort, wo das Thema Krankenstand tabuisiert und gänzlich in die Privatsphäre verschoben wird, haben jedoch Kranke massive Nachteile. Was wir brauchen, ist nicht mehr Geheimnistuerei, sondern ein offensiverer Umgang mit der massiven Zunahme insbesondere psychischer Erkrankungen in unseren hochentwickelten Gesellschaften.

Dr. Christopher Prinz ist Senior Economist

bei der OECD in Paris und dort insbesondere für die Themen „sickness“ und „disability“ zuständig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2009)

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