27 für Tusk: Gipfelblamage für polnische Regierung

Donald Tusk war 2014 der gemeinsame Kandidat aller Visegr´ad-Länder, diesmal scherte Polen aus.
Donald Tusk war 2014 der gemeinsame Kandidat aller Visegr´ad-Länder, diesmal scherte Polen aus.(c) REUTERS (ERIC VIDAL)
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Donald Tusk wurde als Ratspräsident wiedergewählt. Nur die Polen stimmten gegen ihren eigenen Landsmann.

Brüssel. Es ist ein merkwürdiger Zufall: Vor exakt 365 Jahren wurden im polnischen Parlament zum ersten Mal die berüchtigten Worte „Liberum veto!“ ausgesprochen. Der Landadelige Władysław Siciński beendete am 9. März 1652 mit diesen Worten die Tagung des Sejm – und die Praxis, wonach der Gesetzgebungsprozess mit einer einzigen Gegenstimme blockiert werden konnte, wurde in den folgenden Jahrzehnten zum Symbol für die Unregierbarkeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik.

Am 9. März 2017 wurde das „Liberum veto“ von der nationalpopulistischen polnischen Regierung aus der Mottenkiste der Geschichte geholt: Kurz vor dem Beginn des Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel drohte Außenminister Witold Waszczykowski die Blockade der Tagung an, sollte Polen bei der Entscheidung um den Posten des Ratspräsidenten übergangen werden. Sollte die Abstimmung wie vorgesehen stattfinden, werde „der ganze Gipfel gefährdet sein“, sagte Waszczykowski Donnerstagfrüh.

Doch im Gegensatz zu den Zeiten der Adelsrepublik hatte Polen diesmal keine Handhabe gegen die Wiederwahl von Donald Tusk: Der ehemalige polnische Premierminister wurde am Nachmittag im Expresstempo mit überwältigender Mehrheit für weitere zweieinhalb Jahre im Amt des Ratspräsidenten bestätigt. Nur Tusks Nachfolgerin Beata Szydło votierte gegen ihren Landsmann und die restlichen 27 Mitgliedstaaten stimmten geschlossen für Tusk.

Selbst die regionalen Partner Polens stellten sich gegen Warschau. Sowohl der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka als auch der slowakische Premier Robert Fico und Ungarns Premier Viktor Orbán stimmten für Tusk, während die litauische Staatschefin Dalia Grybauskaitė Warschau wissen ließ, dass der Posten „kein polnisches Eigentum“ sei.

Tusk wurde im Herbst 2014 nicht von den Polen allein, sondern als gemeinsamer Kandidat der Mittelosteuropäer auf den Schild gehoben, daher hatte die Attacke aus Warschau in den Hauptstädten der Region für Unmut gesorgt. Doch viel schwerer als die Stimmen der Nachbarn wog schlussendlich die Zustimmung von Frankreichs Staatschef François Hollande und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Tusk. „Ich sehe seine Wiederwahl als Zeichen der Stabilität für die gesamte Europäische Union an“, sagte Merkel am Donnerstag.

Die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hatte im Vorfeld alle Register gezogen: In einem mit „Tusk greift Polen an“ betitelten Videoclip auf ihrer Website warfen die Nationalpopulisten dem ehemaligen liberalen Premier unter anderem vor, für den EU-Austritt Großbritanniens, die islamistischen Terroranschläge und die Flüchtlingskrise verantwortlich zu sein. Ihr Landsmann habe das Prinzip der politischen Neutralität „brutal verletzt“, indem er sich in die inneren Angelegenheiten Polens eingemischt habe, kritisierte Premierministerin Beata Szydło in einem am Mittwoch an alle EU-Hauptstädte verschickten Brief.

Um Tusk loszuwerden, nominierte PiS den Europaabgeordneten Jacek Saryusz-Wolski als Kandidaten für das Amt des Ratspräsidenten – was insofern erstaunlich war, da der Ratschef den Gepflogenheiten der EU zufolge ein ehemaliger Premier oder Präsident sein muss. Saryusz-Wolski ist es nicht – und er wurde folglich als Gegenkandidat nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

Dass der Kreuzzug gegen Tusk dem ganzen Land schaden kann, nehmen die Nationalpopulisten offenbar in Kauf. Noch vor wenigen Tagen hatte die graue Eminenz der Regierung, PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, vor einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ gewarnt, weil die Einteilung in integrationswillige und -unwillige Mitgliedstaaten „die Union zerstören“ würde (siehe Seite 3). Die Totalopposition, gepaart mit Kaczyńskis Vorwurf, sein Erzrivale Tusk sei „der Kandidat Deutschlands“, machen dieses Szenario wahrscheinlicher.

Auch vor dem Hintergrund der innenpolitischen Lage in Polen wirkte das Vorgehen fragwürdig. Gemäß einer Anfang März vom Meinungsforschungsinstitut Kantar Millward Brown durchgeführten Umfrage wünschten sich 54 Prozent der Polen, dass ihre Regierung Tusk unterstützt. Kaczyńskis erfolgloser Abwehrkampf war also nicht einmal mehrheitsfähig.

AUF EINEN BLICK

EU-Rat. Bis dato wurde der Ratspräsident immer einvernehmlich gewählt – und es ist ebenfalls noch nie vorgekommen, dass ein Mitgliedstaat die Wiederwahl seines Landsmanns zu verhindern versucht. Rein prozedural hatte Warschau keine Handhabe: Für die Wahl des Ratspräsidenten genügt eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 21 EU-Mitgliedern mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung. Das Prinzip der Einstimmigkeit gilt für die Verabschiedung der Gipfelbeschlüsse – die aber nichts mit der Personalie Tusk zu tun hatten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2017)

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