Eva Menasse: "Heute bin ich geladen"

Eva Menasse
Eva Menasse(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Die Rede zur Eröffnung der Buchmesse "Buch Wien". Eva Menasse geht der Frage nach, wozu sich eine Österreicherin bekennen kann. Die Antwort findet sie in der Kunst.

Zur Eröffnung der "BuchWien 2009" dürfe ich reden, worüber ich wolle, hat man mir von Seiten der Veranstalter und Organisatoren versichert. Das klang zuerst überaus verführerisch, vor vielen Monaten, von Berlin aus, wo ich seit bald zehn Jahren lebe. Ich versuchte mir das damals vorzustellen, wie ich dann da vor Ihnen stehen würde, in Wien, wo ich gar nicht mehr oft bin, vor mir die Kulturministerin, der Kulturstadtrat und all die anderen Ehrengäste. Und da wurde mir schnell klar, dass diese großzügige und ehrenvolle Einladung, zu kommen und zu sprechen, worüber ich nur wollte, in Wahrheit überhaupt keine Wahlmöglichkeiten offen ließ, ja nicht den geringsten kleinen Ausweg. Vom Moment, da diese Einladung ausgesprochen wurde und ich sie annahm, war ich gefangen in einer Falle, die nun mein Thema sein soll. Die Falle ist dieses Land, und mein Thema muss Österreich sein, meine Heimat, meine Herkunft, mein Verhängnis; Österreich, das Land, in dem ich ohne jeden Zweifel wurde, was ich heute bin.

Mit aller gebotenen Vorsicht, was Verallgemeinerungen betrifft - denn wir Österreicher verallgemeinern gern, und am liebsten den Rest der Welt, wenn wir nämlich glauben, dass es nirgendwo auf der Welt so schön schrecklich sei wie bei uns - darf man, glaube ich, doch sagen, dass man als Österreicher auf eine komplizierte Weise besonders schwer an seinem Land trägt.

Ich weiß nicht, ob ein Schweizer oder ein Neuseeländer, ein Niederländer oder ein Kanadier dauernd diese heftige Spannung in sich spürt, dauernd seine Staatszugehörigkeit bedenkt, dauernd mit sich selbst und seinem Land im Clinch liegt, zerrissen zwischen empörter Abscheu und kindlich-stürmischer, verzeihender und beschützender Liebe; ich wünsche es ihm, dem Schweizer, dem Neuseeländer, dem Niederländer und dem Kanadier jedenfalls nicht.

Denn so geht es doch vielen Österreichern, und ein Großteil unserer Kunst, ein Großteil unserer Literatur ist davon geprägt, von diesem österreichischen Seelenspalt, aus dem es dauernd wütend pfeift.
Und so geht es auch mir, da draußen "unter den Piefkes". Manchmal fühle ich das Österreichische in mir ticken, als hätte ich eine Unruhe eingebaut, die andere nicht haben. Oft genug hasse ich - und mit Grund! - gewisse österreichische Zustände, und ich schäme mich. Doch schon kurz darauf habe ich wieder Anfälle von wildem Patriotismus, der meine nicht-österreichischen Freunde befremdet - was mich nur wieder darin bestätigt, dass man als Österreicher eben nicht verstanden wird.

Doch, danke der Nachfrage, in Deutschland lebt es sich sehr angenehm. Diesen Satz kann man gleich mit einem bitterbösen österreichischen Aperçu ergänzen, im Gegensatz nämlich zu Österreich "wo sie einen erst leben lassen, wenn man tot ist". Ja, im Bitterbösen sind wir gut, das könnte übrigens ein Grund sein, Österreich zu lieben, im Gegensatz zum Zuckerlsüßen, als das wir uns so gern präsentieren und das so furchtbar verlogen ist.

Deutschland jedenfalls erscheint mir viel weniger neurotisch, offener, die Kommunikation ist transparenter, und die Menschen sind freier, selbstbewußter und daher nur selten so erstickend verhabert oder, mit dem genialen Wort von Thomas Pluch, "verfreundet" wie halb Wien. Aber gleichzeitig würde eben niemand ein Wort wie "verfreundet" erschaffen, und zu lachen gibt es auch nicht viel. Das bedeutet nicht, dass die Deutschen keinen Humor haben. Das hätten wir Österreicher nur gern. Aber inzwischen bin ich fast überzeugt, dass Humor wie eine Muttersprache ist, die man später nie mehr richtig lernen kann, in die man hineingeboren sein muss, Humor als fast hermetische, frühkindliche Prägung.

Das Reden, insbesondere das Schimpfen über Österreich hat natürlich Tradition. Es ist etwas Urösterreichisches, offenbar das geeignete Ventil für den inneren Überdruck. Wir sind schon so daran gewöhnt, dass wir etwas Leiseres als Schimpfen gar nicht mehr hören. Aber dieser Verlockung wenigstens möchte ich heute abend nicht nachgeben, wo Sie ja gezwungen sind, mir zuzuhören, auch wenn ich nicht schimpfe oder nur ein bißchen. Nein, ich werde nicht über das neue Fremdenrecht, die Studentenproteste oder den Dritten Nationalsratspräsidenten reden, auch nicht über die dolchspitzen Alltagsrassismen, die mir, wenn ich im Land bin, auf Schritt und Tritt begegnen und mich, da ich nicht mehr daran gewöhnt bin, jedes Mal noch tiefer erschrecken. Ausnahmsweise möchte ich die Tagesaktualitäten sein lassen, in dem durchaus pessimistischen Bewußtsein, dass ich nichts versäume. Bei der nächsten Gelegenheit wird genauso viel wie immer da sein, um sich daran abzuarbeiten.

Nur zum Vergleich: Es gab einmal auch das "Reden über Deutschland" als institutionalisierte Redeübung, es gab Dutzende Sonntagsreden berühmter Männer, die der deutschen Identität hinterhergrübelten, doch mit der Mauerfall sind sie schlagartig verschwunden, die Männer, die Sonntagsreden und das Genre selbst. Es hat sich erledigt. Deutschland bedarf dieser Selbstvergewisserung nicht mehr, die darüber grübelt, wer sind wir, warum sind wir so geworden, was wird noch aus uns werden. Die Teilungswunde hat sich geschlossen, das Land ist vereint. Trotz aller Spannungen und Probleme, trotz aller Verteilungskämpfe zwischen Ost und West - es gibt zumindest kein Identitätsproblem.

Das ist doch eigentlich sehr merkwürdig. Als hätten wir Österreicher auch eine Wunde, aber eben eine, die sich nicht nur nicht schließen, sondern auch kaum benennen lässt. Natürlich, man könnte jetzt zum neunundneunzigsten Mal mit der mangelnden Aufarbeitung der Nazizeit kommen, und auch beim hundersten Mal würde das nicht falsch. Man könnte auch bemerken, dass der österreichische Dollfuss-Faschismus mit seinen paramilitärischen Verbänden und seinen Anhaltelagern, dass diese unbestreitbare und schändliche, diese hausgemachte Diktatur noch viel weniger aufgearbeitet ist. Man könnte, mit einiger Berechtigung, noch weiter zurückdenken: Denn man muß nur wieder einmal Joseph Roth, Stefan Zweig oder Heimito von Doderer lesen, um zu begreifen, wie groß das Trauma war, als das Kaiserreich zusammenbrach, dieser "tausendjährige Garant für Dauer und Stabilität". Die Habsburger-Monarchie war politisch, historisch und geographisch ein so gewaltiges Ding, dass ihr Verschwinden bis zur letzten Minute unvorstellbar schien - man darf daher einen Phantomschmerz für möglich halten, der in irgendeiner unergründlichen homöopathischen Weise bis heute wirkt.

Einfache Erklärungen sind natürlich nicht zu haben, denn das meiste im Leben, nicht nur in Österreich, ist kompliziert und verwickelt. Aber ich möchte zumindest versuchen, mir das spezifisch Österreichische zu beschreiben, von dem ich ja weiß, dass es auch in mir steckt, und von dem sich doch wenigstens ein Teil annehmen, ja vielleicht sogar gernhaben lassen muss als vaterländisches, muttersprachliches Erbe.

Was also ist es, diese tickende Unruhe, dieses hoch Energetische, Brennende, das so schöpferisch wie zerstörerisch, so produktiv wie katastrophal sein kann? Seit mich ein deutscher Literaturkritiker voller Bewunderung mit seinem Eindruck konfrontiert hat, dass dieses Land Österreich offenbar ein "Kraftwerk für Literatur" sei, hantiere ich probeweise mit physikalischen Begriffen. Physik war zwar nicht mein Lieblingsfach, ganz im Gegenteil. Trotzdem helfen einem schon die Grundbegriffe: Zu Entladungen kommt es, wenn große Unterschiede herrschen. Wo es keine Unterschiede gibt, ist es ruhig. Gewitter entstehen, wenn sehr heiße auf sehr kalte Luft trifft, das weiß jedes Kind. Und jeder Stromkreis funktioniert wie Österreich: zwischen Plus und Minus, zwischen Pro und Contra geht es ständig heiß hin und her. Wer zu nah kommt, kriegt Schläge, wer zu viele Schläge kriegt, muss um sein Leben fürchten. Es geht also um die Amplitude, um den Unterschied zwischen Minimum und Maximum, um Gipfelsturm und Fallhöhe. Dabei handelt es sich aber beileibe nicht um äußerliche Gegensätze wie anderswo, also etwa um extreme Unterschiede zwischen Arm und Reich oder Jung und Alt. Wir haben auch in keinem extremen Ausmaß Zuwanderung zu verkraften, ebensowenig, wie wir unter einer extremen Arbeitslosenzahl leiden. Das einzige, was wir haben, sind ein paar Extremisten, die das behaupten. Nein, in diesen Belangen geht es uns im Vergleich nach wie vor glänzend.
Nach außen hin sind wir ein ruhiges, glückliches kleines Land, eine verlässliche europäische Demokratie trotz mancher lokaltypischer Eigenheiten.

Die spannungsvollen Gegensätze aber, die haben wir innen eingebaut. Denn wenn wir unter uns sind, sind wir dauernd gereizt bis aufs Blut. Ich habe einmal versucht, die Frontstellung so zu beschreiben: Auf der einen Seite die aggressiv braungebrannten Vorzeigepatrioten in Dirndl oder Lederhosen, auf Skiern oder auf Lippizzanern, die wahlweise jodeln, Sachertorten backen oder am Opernball Walzer tanzen, und auf der anderen Seite die professionellen Nestbeschmutzer, die durch den Katholizismus, den Provinzialismus oder die unaufgearbeitete Nazi-Vergangenheit so geschädigt worden sind, dass sie nur durch anhaltendes, alarmistisches Schimpfen überhaupt Luft kriegen. Karl-Markus Gauß hat in einem seiner brillanten Essays zur Beschreibung des Österreichischen und seiner inneren Widersprüche bei der Mentalität angesetzt: er schlug einen wirklich bestechenden Bogen von Karl Moik zu Hermes Phettberg. Das sind, nach Gauß, zwei weitere mögliche Außenpflöcke der österreichischen Dialektik: vom Spießer zum Exzentriker, von der Barbarei zur Revolte. Und wieder zurück, und immer hin und her, siehe oben, ein Stromstoß, ein Kraftwerk.

Aber die Sache wird dadurch noch komplizierter, dass jeder einzelne Österreicher einen Teil dieser Zerrissenheit in sich selbst herumträgt. Das ist ein Erbe unserer vielfach gebrochenen Vergangenheit ebenso wie Ausdruck einer Art von Nationalcharakter.

Übergroße Harmoniebedürftigkeit wird uns nachgesagt, das ist fester Bestandteil des Klischees. Aber warum strebt denn einer nach Harmonie? Weil er vom Streit genug hat. Das eine bedingt das andere. Umgekehrt haben sich Harmoniebedürfnis und Konfliktverbot über Jahrzehnte wie Mehltau so sehr über das Land gelegt, dass wir offenbar nicht anders können, als zündelnden Maulhelden hinterherzulaufen, weil man immer das will, was man nicht hat oder kann. Jedes österreichische Kind wird darauf gedrillt, dass es nicht vorlaut ist und dass es sich um Himmels willen nicht wichtig macht. Automatisch bewundert es dann die hemmungslosen Goschenaufreißer. Wie Robert Menasse einmal schrieb: Alles ist ein "Entweder und Oder".

Das Schöne, Gute, vor allem das Witzige und Befruchtende, das ich an Österreich liebe und das ich manchmal so sehr vermisse, ist ohne das Häßliche, Gemeine, das Brunzdumme und Unerträgliche offenbar einfach nicht zu haben. Beide Teile stecken uns, in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, einmal mehr Sommerg'spritzter, ein andermal eher pur mit Eis.
Unsere Amplitude, unser energetisches Potential bleibt jedenfalls immer gleich groß, aufgerissen wie ein Drachenmaul, oder von mir aus das Maul des Lindwurms. Rein physikalisch ist das bedeutsam. Denn Spannungen wollen sich entladen, große Gegensätze wollen sich angleichen, in der Natur strebt alles auf den Mittelwert zu. Nicht so in Österreich. Wir sind stabil in unserer Unruhe, so stabil wie ein kräftiger Sisyphos mit einem Januskopf vor einem Spiegel. Was tun wir da? Wir drehen ungläubig dauernd den Kopf hin und her - da muss einem ja schlecht werden. Manchmal hätte man es ja auch gern ein bisschen ruhiger, aber andererseits wird einem wenigstens nie fad. Und das ist uns ja auch immens wichtig, dass einem nicht fad wird.

In Österreich ist es wenigstens immer lustig, habe ich lange Zeit dauernd behauptet. In Wien lache ich in einer Woche so viel wie in Deutschland in einem halben Jahr nicht, war einer meiner Standardsätze. Wenn wir aber unseren physikalischen Ansatz ernst nehmen, dann verweist ein Phänomen immer auf sein Gegenteil. Materie und Antimaterie, Plus und Minus. Und deshalb verweisen die Stärken insgeheim immer direkt auf die schwersten Charakterfehler. Das typisch österreichische Witzeln und Kalauern, diese ganze kreative österreichische Sprachverliebt- und Sprachbesessenheit, die die Deutschen meistens mit offenem Mund staunen lässt, bezieht seine Energie aus der Respektlosigkeit. Guter Humor ist per definitionem böse, guter Humor ist schwarz, er tastet sich an die Grenzen heran und überschreitet sie gelegentlich spielerisch. Und ich fürchte, dass genau deswegen Österreich gleichzeitig jenes Land ist, in dem dauernd jemand mit einem degoutanten Rülpser, mit dem im Wortsinn Unsäglichen auffällt.

Halten wir also fest, dass die österreichische Seele zwischen verschiedenen Extremen aufgespannt ist, schmerzhaft wie auf einem mittelalterlichen Foltergerät. Überall ist diese Spannung angedeutet, bis in die Buchtitel und die berühmten Zitate, von Hilde Spiels "Dämonie der Gemütlichkeit" bis zu Rudolf Burgers "zähnefletschender Herzlichkeit".
Und deshalb ringen wir dauernd. Deshalb nehmen uns andere als unentschlossen, umständlich und entscheidungsschwach wahr, deshalb sind wir die Meister des Mehrdeutigen, des Raunenden, auch des Hinterfotzigen. Deshalb hört man bei uns so oft den klassischen Satz: „Ich will ja nichts sagen, aber...".
Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, auf eine solche Spannungsfolter oder Folterspannung zu reagieren. Man kann sich, sobald man der Streckbank entkommen ist, erschrocken einrollen, sich auf den Boden legen, den Kopf zwischen die Knie, und sich tot stellen. Sich ganz auf sich selbst konzentrieren und nicht mehr weiter denken als bis zur eigenen Körpergrenze, und dabei immer nur den eigenen verbrauchten Atem einatmen. In einer solchen Haltung wird automatisch jeder zum Feind, der einem bloß nahekommt, denn man sieht ihn nicht, man spürt nur die Erschütterung seiner Schritte, das ist unheimlich und man rechnet daher mit dem Schlimmsten. Und dabei ist es vielleicht gar kein Tschetschene oder ein Asylant oder ein linker Gutmensch, um in wahlloser Reihenfolge des Österreichers Feindbilder aufzuzählen. Zum Beispiel die Kärntner führen dieses Einrollen seit Jahrzehnten mit einem Trotz und einer Verbohrtheit vor, dass man sich schon längst keine Sorgen mehr um ihre Gesundheit machen muss, sondern nur noch darum, ob überhaupt noch jemals Genesung möglich ist. Nur zwei kurze Bemerkungen dazu: ein paar hundert Kilometer nördlich von Kärnten, in Sachsen, wurde gerade zum zweiten Mal ein sorbischer Ministerpräsident, also Landeshauptmann, angelobt, der ganz selbstverständlich seine Eidformel mit dem sorbischen "S BoŽej pomocu - Mit Gottes Hilfe" beschloß. Ja, so etwas gibt es, ist es zu glauben, ein zweisprachiger Sachse als Landeshauptmann, aber unsere armen Kärntner fühlen sich schon von ein paar Ortstafeln schwerst bedroht.

Und als ich vor einiger Zeit einen Kommentar zu Kärnten, der Saualm und den Totenkult um ihren Lebensmenschen und Alkoraser veröffentlichte, bekam ich etliche Leserbriefe, in denen Kärntner mich dafür verfluchten, dass ich geschrieben hatte, ihre Leibspeise seien Knödel. Nein, und ich betone das hier sozusagen noch einmal vor der Welt, die Kärntner essen nicht hauptsächlich Knödel, sondern Nudeln, Nudeln bitte bei den Kärntnern, ich gelobe, das fürderhin nicht mehr zu verwechseln. Aber von der Saualm und Negerwitzen des neuen Landeshauptmanns stand in buchstäblich keinem dieser Briefe ein Wort. Nicht eines. Es ging nur um Nudeln. Das hatte Kärnten wirklich gekränkt.

Die andere Möglichkeit jedoch, einer ungesunden Streckung, Spreizung und Verdrehung entgegenzuwirken, ist, in Bewegung zu kommen und zu bleiben. Das ist viel besser als furchtsames Einrollen, das wird Ihnen jeder Arzt bestätigen. Das tun die österreichischen Künstler und Schriftsteller seit jeher, sie schwingen und ticken und zittern und toben. Sie lehnen sich auf und sie ecken an, und vielleicht ist es ja nur wieder mein blinder Patriotismus, der mir vorkommen lässt, sie seien darin extremer als die Künstler anderswo, jedenfalls solche in vergleichbar ruhigen Demokratien. Und hier ist sie ja, meine Heimat, zu der ich mich problemlos bekennen kann: die Kunst, entstanden aus der Auflehnung. Kafka und Kraus, Joseph Roth und Doderer, von Polgar und Kuh bis Bernhard, Jandl und Schuh. Dazu die Filmemacher, die vielleicht für viele, die jünger sind als ich, inzwischen schon mehr Identifikation bedeuten als die Schriftsteller - Michael Haneke, Michael Glawogger, Ulrich Seidl, Barbara Albert, Wolfgang Murnberger.

Übrigens waren es ja gerade die Filmleute, die vom Jahr 2000 an, als sich die Österreicher typischerweise mit "Tschüssel" zu verabschieden begannen, am heftigsten politisch protestiert haben, offenbar befähigt ihr Beruf sie besser zur Teamarbeit als die Schreibenden. Das alles ist Österreich, das alles kommt von hier und wäre ohne den spezifischen Hintergrund, ohne den schwarzen, verzweifelten Humor und die ganzen waghalsigen Verrenkungen der österreichischen Seele so nicht entstanden.

Und so eine ideelle Heimat, die kann man praktischerweise mitnehmen, wohin man will. Auch das haben die Bücher und die Filme, die Bilder und die Kompositionen nämlich dem Dummen und Grauslichen voraus. Sie sind kosmopolitisch, langlebig und universiell. Dagegen so gelbe Taferln, auf denen zum Beispiel etwas steht wie "Daham statt Islam" , die kann man halt leider nur innerhalb Östereichs aufstellen. Und auch da werden sie nach einer Weile wieder weggeräumt wie Hundstrümmerln.

Und deshalb wollte ich es heute einmal andersherum versuchen. Einmal wenigstens möchte ich unösterreichisch eindeutig sein, indem ich mich geradezu dazu bekenne, Österreicherin zu sein und zu bleiben, nolens volens und mit allen Unannehmlichkeiten, die das bedeutet. Ich wollte herausfinden, was es eigentlich ist, zu dem ich mich bekennen kann und habe immerhin ein pulsierendes Energiefeld gefunden, mit Ausschlägen in alle Richtungen, das immer wieder neu geladen wird, das sich und mich immer wieder nachlädt. "Heute bin ich wirklich geladen", ist doch eine verständliche und allgemein gültige österreichische Aussage. Das ist jedenfalls mein Österreich, das ich mir nicht wegnehmen lasse, und schon gar nicht von denen, die immer so blöd wie blindlings "Nestbeschmutzer" schreien, sobald man etwas Kritisches über dieses Land sagt. Und die einfach zu dumm sind, um zu begreifen, dass nur einer kritisiert, der sich Veränderung wünscht. Dass nur einer verändern will, dem etwas daran liegt. Noch kürzer gesagt: Wer kritisiert, liebt. Auch wenn dadurch nicht jede Kritik automatisch berechtigt wird, verweist sie doch auf ein Bedürfnis, auf ein Anliegen, auf das Gegenteil von Wurschtigkeit.

Mein Lebensmittelpunkt ist seit bald zehn Jahren Berlin. Ich zahle meine Steuern und meine Krankenversicherung in Deutschland und die Pension, die ich nicht bekommen werde, wird eine deutsche sein. Mein Sohn wächst als Deutscher auf und redet, zum Unglück seiner Großeltern, inzwischen auch wie einer. Mit soviel lebenspraktischer Verankerung stört es mich manchmal durchaus, dass ich in Deutschland nicht wählen kann. Aber deshalb die Staatsbürgerschaft wechseln? Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber immer eher kokett, als Gedankenspiel, ich habe es bisher nicht wirklich in Erwägung gezogen. Und selbst wenn ich diesen letzten Schritt machen würde: Könnte ich deshalb aufhören, Österreicherin zu sein? Joseph Roth schreibt: "Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation - es ist eine Religion." Von einer Religion kann man sich abmelden, aber endgültig austreten kann man auf eine metaphysische Weise eben nicht.

In einer allerletzten Konsequenz geht mich Deutschland, wie jedes andere Land, das nicht Österreich ist, nichts an. Man könnte dort eines Tages so zufällig wieder weggehen, wie man hingekommen ist. Man könnte in einem dritten Land wieder neu beginnen. Und auch in einem vierten.
Mit Österreich ist das anders. Es wird mich immer etwas angehen, auch wenn dieses Etwas mit den Jahren vielleicht kleiner und hoffentlich weniger aufgeregt wird. Ich trage es immer mit mir herum, ich kann es nicht verleugnen oder jedenfalls nicht lange, und ganz sicher kann ich es nicht loswerden. Manchmal verfolgt es mich geradezu, dieses Österreich und seine verzehrende Energie. Gerade in Deutschland wird man ja oft gebraucht, um österreichische Unverständlichkeiten zu erklären, man versucht sich dann als eine Art Übersetzer, als Dolmetscher für Gefühle und Verhaltensweisen, die den Deutschen grell unbegreiflich sind.

Aber das, was man nicht loswird, was einen nicht loslässt und sogar hartnäckig verfolgt, das nennt man wohl, aufseufzend, Identität. Und dass Identität nichts Rundes, Glattes und leicht Verdauliches ist, brauche ich Ihnen hier in Wien ja wirklich nicht zu sagen. Da muss ich nur Franz Schuh zitieren, der einmal ungefähr folgendes gesagt hat: "Wer von gestörter Identität spricht, geht offenbar davon aus, dass es auch eine ungestörte gibt".

Nein, es gibt keine ungestörte Identität, meine österreichische Identität ist jedenfalls überaus gestört. Aber sie ist ganz zweifellos: eine Identität. Und die besteht aus Pech und Schwefel, aus Teer und Federn und einem zwar schwankenden, aber notwendig vorhandenen Anteil Liebe, über den man sich in besonderen Momenten auch einmal Rechenschaft ablegen darf.

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