Vor drei Jahrzehnten wurde das europäische Studentenaustauschprogramm aus der Taufe gehoben. Bis dato haben mehr als vier Millionen junge EU-Bürger die Vielfalt Europas schätzen gelernt.
„Wir haben Italien geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen.“ Als der 1866 verstorbene Schriftsteller und Politiker Massimo d'Azeglio diese Worte sprach, war der italienischen Vereinigungsprozess noch nicht gänzlich abgeschlossen – doch noch bevor Rom und der vatikanische Kirchenstaat als letzte Puzzlesteine das neu gegründete Königreich Italien im Jahr 1870 vervollständigten, hatten sich die Proponenten des Risorgimento Gedanken darüber gemacht, wie sich aus den kulturell heterogenen Bewohnern der apenninischen Halbinsel eine Nation schmieden ließe. Ihre Antwort auf diese drängende Frage lautete: Durch Bildung und Kultur.
Im Zuge der nächsten Jahrzehnte gingen die Regierungen daran, Italienisch, das Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich von einer bildungsbürgerlichen Minderheit gesprochen wurde, als Volkssprache zu etablieren. Und zugleich ließen sie Kulturschaffende wie Giuseppe Verdi als gesamtitalienische Heroen feiern.
Für die europäische Integration in den Nachkriegsjahren spielten Bildung und Kultur zunächst einmal eine untergeordnete Rolle – prioritär ging es darum, ein möglichst dichtes Netz wirtschaftlicher Abhängigkeiten zu knüpfen, um die Kriegsgegner von einst friedlich aneinanderzubinden und längerfristig zu zähmen. Durch Montanunion, Euratom und den Binnenmarkt gelang dies auf eine spektakuläre Weise – und der gemeinsam geschaffene Wohlstand schuf Spielräume für weitere Annäherung.
»Ein echter Europäer ist polyglott, hoch qualifiziert (...) und befreit von der Irrationalität nationaler Identität“«
Robert Menasse
Die Bildungspolitik war in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Erst in den 1970er-Jahren fing man in Brüssel damit an, sich mit der Agenda zu befassen – stets unter der Prämisse, wonach kulturelle Vielfalt Europas zu schützen sei. Die Brüsseler Behörde zielte vielmehr darauf ab, Spracherwerb und Mobilität zu fördern, ohne die Bildungssysteme der Mitgliedstaaten über einen Kamm scheren zu wollen.
Absage an Sektierertum
Dass das Studentenaustauschprogramm Erasmus mittlerweile zu den größten und breitenwirksamsten Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses zählt, ist somit kein Zufall. Das 1987 ins Leben gerufene Programm entspricht ziemlich genau dem Ideal eines friedlich ineinander verzahnten Europa: Es zelebriert erstens die Vielfalt, ist zweitens eine klare Absage an giftiges Sektierertum, und es lehrt drittens, mentale Grenzen zu überschreiten und stets nach Kooperationsmöglichkeiten Ausschau zu halten.
Anders als bei den eingangs angesprochenen Bemühungen zur Schaffung des monoglotten und -kulturellen Italieners ist die Heterogenität ein essenzieller Bestandteil dieser europäischen Wunschidentität. Ein echter Bürger der Europäischen Union ist demnach „polyglott, hoch qualifiziert, aufgeklärt, verwurzelt in der Kultur seiner Herkunft, allerdings befreit von der Irrationalität einer sogenannten nationalen Identität“, wie es Robert Menasse in seinem Essay „Der europäische Landbote“ schreibt. Anders gesagt: Das 19. und 20. Jahrhundert standen im Zeichen einer Leitkultur, der sich alles unterzuordnen hatte; wer allerdings im 21. Jahrhundert erfolgreich sein will, schöpft die Kraft aus der kulturellen Vielfalt.
Vielfalt und Harmonisierung
Dass der vielgereiste Universalgelehrte Erasmus von Rotterdam (siehe Seite 3) zum Schutzpatron des Studentenaustauschprogrammes auserkoren wurde, war ein bewusster Verweis auf die historischen Wurzeln dieser Vielfalt. Die Biografie des Humanisten bietet eine weitere Parallele: Erasmus war nämlich Angehöriger der spätmittelalterlichen „Mittelschicht“. Und auch heute kommt das Austauschprogramm vor allem der gebildeten, leistungsaffinen Mitte der europäischen Gesellschaften zugute – was zunächst einmal kein Defizit sein muss, denn diese Mitte ist zahlenmäßig stark, wie die Tatsache belegt, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als vier Millionen (vor allem junge) EU-Bürger das Förderprogramm in Anspruch genommen haben.
»Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst.«
Erasmus von Rotterdam
Die Erfolgsgeschichte von Erasmus ist zugleich aber auch die klassische europäische Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen den gegensätzlichen Wünschen nach Vielfalt und nach Harmonisierung. Dass das Studentenaustauschprogramm derart reibungslos funktioniert (siehe Seiten 2 und 3), hängt nicht zuletzt mit dem European Credit Transfer System (ECTS) zusammen, das 1999 im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses eingeführt wurde, um die universitären Lernerfolge innerhalb der EU miteinander vergleichbar zu machen.
Im Gegensatz zum beliebten Erasmus-Programm ist Bologna nach wie vor umstritten – immer wieder protestieren Studenten wie Lehrende, dass im Zuge der Reform die Studiengänge verschult worden sind und in Folge an intellektuellem Wert verloren haben, während Unternehmen beklagen, die Absolventen wüssten zwar viel von ECTS-Punkten, aber wenig von der Materie.
Diese Kritik mag berechtigt sein oder nicht, sie zeigt jedenfalls auf, wo der wahre Wert des europäischen Studentenaustauschprogramms liegt: in der befreienden Erfahrung der Grenzüberschreitung, die den Erasmus-Studenten die Möglichkeit gibt, ihre bis dato als selbstverständlich hingenommenen Gewohnheiten und Glaubenssätze zu hinterfragen, mentale Schranken fallen zu lassen und den Erfahrungsschatz zu mehren. Oder, um mit den Worten des großen Humanisten aus Rotterdam zu sprechen: „Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)