Erasmus +

Ein Stück des Lebenswegs mitten durch Europa

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Über vier Millionen haben sich am Austauschprogramm beteiligt. Ein Schritt, der ihnen berufliche Chancen eröffnet und sie für das EU-Projekt positiv gestimmt hat.

Sie werden die Erasmus-Generation genannt. Jene Studenten, für die es in den vergangenen 30 Jahren zum Selbstverständnis geworden ist, einen Teil ihres Studiums in einem anderen EU-Land zu absolvieren. Diese Aufenthalte haben sie geprägt, waren für viele ein unvergessliches Erlebnis und haben nachgewiesenermaßen ihre Berufschancen erhöht. Laut einer Umfrage der EU-Kommission ist der Anteil von arbeitslosen Akademikern unter den Absolventen eines Erasmus-Studiums um 14Prozentpunkte geringer als bei jenen, die nicht im Ausland studiert haben.

Erasmus-Studenten sind flexibler, besser international vernetzt und sind letztlich auch dem Projekt EU aufgeschlossener als ihre Altersgenossen. 93Prozent der mobilen Studenten können sich vorstellen, im Ausland zu leben. Ebenso viele geben an, dass sie durch ihren Aufenthalt gelernt hätten, den Wert unterschiedlicher Kulturen zu schätzen. Sie selbst konnten zudem ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern und Anknüpfungspunkte für ihre künftige Arbeit finden.

Die EU lässt sich das einiges kosten. Für Erasmus+, das mittlerweile auch auf Nichtstudierende ausgeweitete Austauschprogramm, stehen in der Haushaltsperiode 2014–2020 insgesamt 14,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit dem Geld werden vor allem Aufenthalte gefördert. Es werden aber auch grenzüberschreitende Projekte und Forschungskooperationen unterstützt. Erasmus+ umfasst die Bereiche Studium, Ausbildung, Fortbildung, Arbeitserfahrung, Freiwilligendienste, Sport sowie die europaweite Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen und NGOs. War das Programm vorerst nur auf jugendliche Studenten zugeschnitten, so ist es nun für Interessierte aller Altersgruppen offen.

Auch bei den Berufspraktika zeigt das Programm in der Zwischenzeit positive Auswirkungen. So wird rund einem Drittel der Teilnehmer vom Gastunternehmen im Anschluss an ihren Erasmus-Aufenthalt ein Job angeboten.

Presse Grafik

1987 startete das Programm der Europäischen Gemeinschaft mit 3244 Studenten. Mittlerweile nehmen jährlich rund 300.000 Hochschulstudenten und weitere Tausende, die unter anderem als Lehrling ein Berufspraktikum in einem anderen EU-Land absolvieren oder als Lehrpersonal an europäischen Bildungseinheiten unterrichten, teil. Die jeweilige Aus- und Weiterbildung im Ausland wird auch in Österreich anerkannt. So verlängern die Aufenthalte nicht automatisch die Studien- oder Lehrzeit. Die Gesamtzahl jener, die von Erasmus+ bisher in der EU profitiert haben, liegt bei rund 4,4 Millionen.

Das EU-Programm wurde zwar bewusst nach dem Humanisten und reiselustigen Gelehrten Erasmus von Rotterdam benannt, steht aber eigentlich für European Community Action Scheme for the Mobility of University Students. Sein Ziel ist es, die Mobilität von EU-Bürgern zu erhöhen und die Universitäten durch einen regen Austausch von Studenten und Lehrpersonal besser zu vernetzen. Letztlich geht es darum, EU-Bürger auf eine Zukunft in einer stärker globalisierten und internationalisierten Welt vorzubereiten. Individuelle Erfahrungen, aber auch statistische Auswertungen deuten daraufhin, dass diese Ziele durch Erasmus+ erfüllt werden.

Offenheit für Mobilität und Kulturen

Die Möglichkeit, drei bis zwölf Monate im EU-Ausland zu verbringen, nahmen bisher rund 90.000 österreichische Studenten wahr. Ihr beliebtestes Zielland war Spanien, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Praktika wurden wegen der nicht vorhandenen Sprachhürde am liebsten in Deutschland absolviert.

Viele Absolventen berichten, dass sich durch die Teilnahme nicht nur ihre Fremdsprachenkenntnis verbessert hätte, sondern auch ihr Selbstbewusstsein. Meist haben sie Kontakt nicht nur zu ortsansässigen Kollegen geschlossen, sondern auch zu anderen internationalen Studenten. So hat sich in den Monaten im Ausland auf natürliche Weise ein Netzwerk von Bekannten aufgebaut, das ihnen auch nach dem Studium noch zur Verfügung steht. Diese Kontakte erhöhen nicht nur die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen, sondern können auch beruflich genutzt werden.

Erasmus ist mit großer Wahrscheinlichkeit das effizienteste Programm, um EU-Bürgern das gemeinsamen Europa näherzubringen. Die Offenheit der Absolventen für das Zusammenleben unterschiedlicher Nationen spiegelt sich sogar in ihrem Privatleben wider. Rund ein Drittel der Erasmus-Studierenden hat einen Lebenspartner beziehungsweise eine Lebenspartnerin mit einer anderen Staatsangehörigkeit. Normalerweise sind es in dieser Altersgruppe lediglich 14 Prozent, die mit Partnern aus anderen Ländern zusammenleben.

»Meine Familie hätte mich schonst niemals ins Ausland schicken können.«

Jyrki Katainen, ehemaliger finnischer Ministerpräsident und EU-Kommissar

Und auch die EU-Institutionen, die seit Jahren mit Imageproblemen kämpfen und die Freizügigkeit von EU-Bürgern im Binnenmarkt verteidigen müssen, können auf das Programm zählen. Eine Erhebung der EU-Kommission aus dem Jahr 2014 kam zu dem Ergebnis, dass sich 80 Prozent der Erasmus-Absolventen als „Europäer“ fühlen. Bei den nicht mobilen Studenten sind es hingegen nur 70 Prozent. Die Umfrage wurde sowohl vor als auch nach dem Aufenthalt im Ausland durchgeführt, um eventuelle Veränderungen der Einstellung darstellen zu können. Dabei wurde deutlich, dass sich viele Teilnehmer eher nach ihrem Aufenthalt als noch davor vorstellen konnten, in einem anderen EU-Land zu arbeiten.

Als wichtigster Grund für die Bewerbung gaben die befragten Studenten übrigens die Möglichkeit an, für eine Zeit im Ausland zu leben. Das Programm bietet nämlich auch jenen eine Chance, Auslandserfahrungen zu machen, die sich diese allein durch familiäre Zuwendungen kaum leisten könnten. Der ehemalige finnische Ministerpräsident und spätere EU-Kommissar Jyrki Katainen erzählt, dass er ohne diese Hilfe der EU nie außerhalb seiner Heimat hätte studieren können. „Meine Familie hätte mich sonst niemals ins Ausland schicken können.“

In der Praxis reicht die finanzielle Unterstützung von durchschnittlich 300 Euro im Monat (je nach Gastland an das Preisniveau angepasst) freilich kaum für alle Aufenthaltskosten aus. Studiengebühren fallen in dieser Zeit zwar keine an, doch selbst günstige Unterkünfte sind damit kaum abzudecken. Studierende und Lehrende erhalten zusätzlich zu den Aufenthaltskosten einen einmaligen Reisekostenzuschuss, der sich nach der Distanz zwischen Heimat- und Gasthochschule richtet. Sonderhilfen gibt es für Behinderte und besonders sozial benachteiligte Teilnehmer.

Nach und nach ausgeweitet

Vor 30 Jahren haben sich lediglich elf Länder an Erasmus beteiligt: Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Irland, Italien, Niederlande, Portugal, Spanien und Großbritannien. Mittlerweile sind es 33 Länder, darunter alle EU-Staaten, Norwegen, Island, Liechtenstein, die Türkei und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Die Schweiz hat einen Sonderstatus mit eingeschränkter Teilnahme. Österreich nimmt seit 1992 teil.

Da sich das Erasmus-Programm auch in Großbritannien großer Beliebtheit erfreut, wurde die fortgesetzte Teilnahme des Landes nach dessen EU-Austrittsentscheidung heftig diskutiert. Viele Universitäten fürchteten, von ihrer Kooperation mit Bildungseinrichtungen in den anderen Mitgliedstaaten abgeschnitten zu werden. Britische Studenten, die selbst gern ein oder mehrere Semester in anderen EU-Städten verbringen würden, bangen um diese attraktive Möglichkeit. In Appellen wird die britische Regierung deshalb gedrängt, zumindest die Erasmus-Kooperation beizubehalten. Der Austritt Großbritanniens würde auch heimische Studenten treffen. Vergangenes Jahr nahmen 442 österreichische Studenten das EU-Austauschprogramm für einen Aufenthalt auf der Insel in Anspruch. Weitere 171 absolvierten dort Praktika.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)

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