Von verlorenen Kindern: Armenische Spuren in der Türkei

Geschichtsforschung mit der Kamera: das Ehepaar Nezahat (l.) und Kazım Gündoğan.
Geschichtsforschung mit der Kamera: das Ehepaar Nezahat (l.) und Kazım Gündoğan. (c) Clemens Fabry
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Das Ehepaar Nezahat und Kazım Gündoğan beschäftigt sich in Film und Buch mit ihrer Heimat - das historische und multiethnische Dersim.

Es sind Geschichten wie die von Aslıhan Kiremitçiyan. Jahrzehntelang hat sie ihre Herkunft und ihre Kindheit in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verschoben, hat nicht darüber gesprochen, nicht einmal dann, als ihre Tochter vor einigen Jahren die Geburtsurkunden von Aslıhans Eltern entdeckte. Armenische Namen. Kiremitçiyan war da schon alt, hieß Fatma Yavuz, der Name assimiliert, die Religion gewechselt. Behutsam hat sich das Ehepaar Nezahat und Kazım Gündoğan an Kiremitçiyan angenähert. Und mit ihren Gesprächen kamen die Erinnerungen zurück.

„Es war sehr dramatisch“, erzählt Nezahat Gündoğan Aslıhans Leben nach. Sie war vier, fünf Jahre alt, als 1937/38 der Aufstand in Dersim – die heutige türkische Provinz Tunceli – losbrach. Wie viele andere armenische und alevitische Mädchen auch wurde sie der Familie entrissen und zwecks Assimilation an sunnitische Pflegeeltern übergeben, die die Kinder bisweilen an andere Pflegefamilien weiterreichten, oft verloren sich dann die Spuren. Das Paar Gündoğan, selbst aus alevitischen Familien aus Dersim, spürt die bewegte Vergangenheit ihrer Heimat nach und verarbeitet sie in Filmen und Büchern.

Ihr aktueller Film „Die Kinder von Vank“, die das Paar kürzlich in Wien vorgestellt hat, erzählt von den Armeniern dieser Gegend. Es gibt kaum noch welche in dieser östlichen Provinz, erzählt Regisseurin Nezahat Gündoğan, aber wie das Schicksal der mittlerweile verstorbenen Aslıhan Kiremitçiyan zeigt, sind die armenischen Spuren sehr wohl vorhanden – und viele Menschen wissen gar nichts von ihrer Herkunft. Denn der alevitisch-kurdische Aufstand in Dersim gegen die Assimilations- und Säkularisierungspolitik der jungen Republik ist wissenschaftlich kaum aufgearbeitet worden. Erst 2011 erkannte die Regierung Erdoğan das Massaker und die Gewalttaten der damaligen Staatsführung an.

Der Friedensprozess mit den Kurden hat in der türkischen Öffentlichkeit dazu geführt, dass plötzlich allgemein über die Leidensgeschichte der Minderheiten diskutiert werden konnte, erzählt der Produzent Kazım Gündoğan. Mit dem Wiederaufflammen des Konfliktes habe sich das geändert, die Platzierung des Themas in der Öffentlichkeit könne aber nicht mehr rückgängig gemacht werden: „Die Bevölkerung ist weiter als die Politik. Außer den Nationalisten würde sich der Rest des Landes nicht aufregen“, sagt er mit Blick auf die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern.

Offene Wunden schließen

Dennoch: Es sei schwierig eine Minderheit in der Türkei zu sein, sagt die Regisseurin: „Kurde, Alevite, homosexuell. Aber Armenier sein ist noch schwieriger als das alles. Die Kurden zum Beispiel können sich zusammentun und ihre Interessen vertreten.“

Für ihre Recherchen hat das Paar Hunderte Interviews geführt, hat sich durch die Genealogie ganzer Sippen durchgeackert, ist mit Überlebenden dorthin zurückgekehrt, wo sich die Dramen abgespielt haben, hat sich auch mit den Nachkommen der Täter getroffen. Sie wollten mit ihrer Arbeit keine neuen Wunden öffnen, sondern die alten schließen, sagt Kazım Gündoğan; sie wollten nicht Menschen beschuldigen, sondern Fakten benennen. Gewissermaßen schließen sie damit eine Lücke, die eigentlich Historiker füllen sollten.

Ihre Filme und Bücher stoßen nicht nur in der Türkei auf große Resonanz; manche hätten sich nach ihren Filmen aufgemacht, um ihre eigenen Wurzeln zu suchen, erzählen sie. In Ankara ist ihr Film „Die Kinder von Vank“ ausgezeichnet worden, es war eine mutige Entscheidung der Jury, sagt Nezahat Gündoğan, nämlich in der derzeitig politisch aufgewiegelten Stimmung einen derartigen Film zu prämieren. Zwar erhalten sie Unterstützung vom Kulturministerium, aber für die Filmvorführungen in der Türkei organisiert das Paar zusätzliche Sicherheit.

Vor allem beim Thema Dersim-Aufstand, das für Kurden und Aleviten in der Türkei ein identitätsstiftendes Moment darstellt, sehen die Filmemacher eine Gefahr. Denn ihre Arbeit ist auch als Kritik an eine Politik zu verstehen, die aus populistischem Kalkül die Aufarbeitung gesellschaftlicher Traumata nicht zulässt.

ZU DEN PERSONEN

Nezahat und Kazım Gündoğan. Das Paar arbeitet in Filmen und Büchern die Geschichte ihrer Heimat Tunceli in der Türkei – historisch: die Provinz Dersim – auf. Ihr jüngster Film, „Die Kinder von Vank“, der kürzlich in Wien vorgestellt wurde, handelt vom Schicksal der Armenier, die beim Dersim-Aufstand 1937/38 ihre Familien verloren haben. Das Paar lebt in Istanbul.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2017)

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