Die Überprüfung von Hochhäusern offenbart eklatante Brandschutzmängel. Fünf Gebäude wurden geräumt.
London/Wien. Vom Hochhausbrand zum landesweiten Skandal: Experten haben bei der Inspektion von Hochhäusern in Großbritannien immer mehr Gebäude mit gravierenden Brandschutzmängeln entdeckt. Im Londoner Stadtteil Camden wurden einige Sozialbauten sogar als so gefährlich eingestuft, dass rund 4000 Bewohner sofort in Sicherheit gebracht werden mussten. Der Grenfell Tower, in dessen Flammen mindestens 79 Menschen ums Leben kamen, ist somit kein Einzelfall.
In dem Sozialbau in North Kensington hatte ein defekter Kühlschrank das Feuer entfacht, das sich über die Fassade dann rasend schnell auf alle 24 Stockwerke verbreitete. Es war brennbares Dämmmaterial verwendet worden, das nicht eingesetzt hätte werden dürfen. Zusätzlich dürfte ein Spalt zwischen den Außenverkleidungsplatten und dem Dämmmaterial für einen verheerenden Kamineffekt gesorgt haben.
Die Regierung hatte nach der Feuerkatastrophe im Grenfell Tower angekündigt, landesweit insgesamt 600 Hochhäuser mit einer ähnlichen Außenverkleidung überprüfen zu lassen. In den vergangenen Tagen untersuchten nun Fachleute Dutzende Hochhäuser mit potenziell riskanten Fassaden. Das schockierende Ergebnis: Bei 60 Gebäuden in insgesamt 25 Kommunen wie Manchester oder Portsmouth wurden Mängel gefunden.
Die Briten rätseln, wie so etwas passieren konnte. Haben Baufirmen falsche Materialien eingesetzt, wollten sie mit Pfusch Geld sparen? Vielleicht sind die Brandschutzbestimmungen ungenügend. Oder haben die Behörden schlampig kontrolliert? Eventuell trifft sogar alles zu. Premierministerin Theresa May ordnete zum Grenfell Tower eine unabhängige Untersuchung an. Auch in Schulen und Krankenhäusern sollen jetzt entsprechende Materialtests vorgenommen werden, wenn Sicherheitsbedenken bestünden, so ein Sprecher der Premierministerin. Feuerwehr und Scotland Yard warnten vor voreiligen Schlüssen. Geprüft wird nun eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung.
Bei den fünf Hochhäusern in Camden, in denen viele sozial Benachteiligte leben, schlug die Feuerwehr bei der Überprüfung sofort Alarm: eine leicht entflammbare Außenfassade, keine Brandschutztüren, Mängel beim Schutz von Gasleitungen, Sperrholzplatten im Türbereich. Alle Mieter mussten die Sozialbauten räumen, viele waren von der raschen Evakuierung genervt. Die Sanierungsarbeiten könnten bis zu vier Wochen dauern. Doch seit der Katastrophe im Grenfell Tower will man kein Risiko mehr eingehen.
Abriss alter Gebäude?
Der mehr als 40 Jahre alte Grenfell Tower mit seinen 120 Wohnungen war erst vor wenigen Jahren saniert worden. Trotzdem hatte man keine Sprinkleranlagen eingebaut. In neueren Hochhäusern sind solche automatischen Löschanlagen Behördenangaben zufolge vorgeschrieben. Eine Pflicht zur Nachrüstung gibt es aber nicht.
Londons Bürgermeister, Sadiq Khan, brachte bereits den Abriss von veralteten Gebäuden ins Gespräch. Bei Hochhäusern aus den 1960er- und 1970er-Jahren könnte das aus Sicherheitsgründen nötig werden, schrieb er im „Observer“. Nach dem Krieg seien viele Hochhäuser entstanden, die heutigen Standards nicht mehr entsprächen.
Auf einen Blick
Am 14. Juni brannte das 24-stöckige Hochhaus Grenfell Tower im Londoner Stadtteil North Kensington mit 120 Wohnungen völlig aus. Mindestens 79 Menschen starben. Wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des Feuers tatsächlich in dem Sozialbau aufhielten, ist unklar. Ausgelöst wurde der Brand durch einen defekten Kühlschrank, über die Fassadendämmung breiteten sich die Flammen rasch aus.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2017)