Kommende Woche will die Brüsseler Behörde über Einleitung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens gegen Warschau entscheiden.
Brüssel/Warschau. „Ein Verfahren gemäß Artikel 7 rückt in greifbare Nähe.“ Mit diesen Worten kommentierte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans die jüngsten Vorgänge in Polen. Nach einer de facto-Ausschaltung des Verfassungstribunals Anfang 2016 und der personellen Umgestaltung des Höchstgerichts will die nationalpopulistische Regierungspartei PiS nun den Umbau der Justiz perfekt machen. Nach einem Gesetzesvorschlag sollen alle Höchstrichter abgelöst und ihre Nachfolger vom Justizminister ernannt werden. Während PiS von einer längst überfällige Entkommunisierung der Gerichte spricht, wirft die Opposition der Regierung die Aushebelung des Rechtsstaats durch eine politisch gelenkte Justiz vor.
Dass die Brüsseler Behörde der zweiten Argumentationslinie folgt, liegt auf der Hand – bereits seit gut einem Jahr untersucht der Stellvertreter von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Vorgänge in Warschau. Bis dato hatte Timmermans stets auf Zeit gespielt und den Dialog mit den Nationalpopulisten gesucht. Nun scheint er mit seiner Geduld am Ende zu sein: Bereits am kommenden Mittwoch werde sich die Brüsseler Behörde neuerlich mit Polen befassen – und zwar konkret mit der Option des Artikel-7-Verfahrens, sagte Timmermans gestern. Bis dahin werde auch eine „umfassende rechtliche Analyse“ vorliegen.
Symbolische Drohung
Artikel 7 wurde für den Fall einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der EU durch ein Mitglied der Union konzipiert. Am Ende des dreistufigen Verfahrens steht der Entzug der Stimmrechte im Rat, dem Gremium der Mitgliedsstaaten. Diese prozedurale „Atombombe“ kann aber nur mit Zustimmung aller EU-Mitglieder gezündet werden – und Warschau hat mit Premierminister Viktor Orbán einen Verbündeten, der Sanktionen gegen Polen nach eigenen Worten nicht zustimmen würde.
Artikel 7 hat somit hauptsächlich Symbolcharakter, denn nur die erste Stufe des Verfahrens – eine Feststellung des Rats, dass in Polen eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der europäischen Grundwerte vorliegt – kann gegen den Widerstand Ungarns aktiviert werden. Viel schwerer wiegt indes eine Drohung, die Timmermans gestern en passant ausgesprochen hat: nämlich Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau. Dieses Prozedere zielt auf Verstöße gegen Vertragsverpflichtungen (sprich die Nichteinhaltung der Spielregeln des Binnenmarkts) ab. Die Kommission könnte Polen auf diese Weise indirekt in die Defensive bringen – etwa indem sie feststellt, dass polnische Gesetze aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit nicht EU-konform exekutiert werden können. In diesem Fall wäre eine Klage der Kommission gegen Polen vor dem Europäischen Gerichtshof möglich.
Eine weitere indirekte Möglichkeit bietet Artikel 19 des EU-Vertrags, der sich zwar primär mit der Funktionsweise des EuGH befasst, in einem Absatz allerdings auch festhält, dass EU-Mitglieder für ein funktionierendes Justizsystem zu sorgen haben, „damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Nach Einschätzung der Kommission trifft dieser Passus auf Polen zu und ist ebenfalls vor dem EuGH einklagbar. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2017)