Islamische Länder rufen zu Schweiz-Boykott auf

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Minarett(c) AP (Heribert Proepper)
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Der türkische Europaminister fordert Muslime auf, Geld von Schweizer Konten abzuziehen. Manche Medien kritisieren aber die Doppelbödigkeit der Empörung und fragen, wie denn die Türkei mit Christen umgeht.

Was Schweizer Regierung und Wirtschaft befürchtet hatten, könnte infolge des Minarettverbots tatsächlich passieren: wirtschaftliche Konsequenzen für das Land, also ein Boykott von Schweizer Produkten – und vor allem ein Boykott des Finanzplatzes.

Der sonst eher konziliant wirkende Europaminister Egemen Ba?is gab nun die Marschrichtung vor: „Ich bin mir sicher, diese Entscheidung wird unseren Brüdern in muslimischen Ländern, die ihr Geld auf Schweizer Bankkonten haben, Gelegenheit bieten, dies zu überdenken“, sagte der Minister laut der regierungsnahen Zeitung „Todays Zaman“ in Stockholm. Ba?is gab auch gleich einen Ratschlag, wo die „Brüder“ stattdessen ihr Vermögen anlegen sollten: in der Türkei natürlich, deren Banken die Krise unversehrt überstanden hätten.

In Kairo rief der für seine politischen Kapriolen bekannte ägyptische Parlamentsabgeordnete Mustafa Bakri zu einem Boykott von Schweizer Produkten auf. In dasselbe Horn stieß die Chefredakteurin der regierungsnahen syrischen Zeitung „Teshreen“: Sie forderte einen arabischen Boykott von Schweizer Waren. Die Schweizer Industrie exportiere viel in islamische und arabische Länder, „ein Boykott hätte daher spürbare Auswirkungen“, erklärte sie.

Immerhin sieben Prozent der Schweizer Exporte gehen in mehrheitlich muslimische Länder, und 250.000 Muslime kommen jährlich als Touristen in die Schweiz, wo sie für fünf Prozent der Einnahmen in diesem Wirtschaftssektor sorgen.

„Schönstes Geschenk für al-Qaida“

Dass es relativ lange gedauert hat, bis die islamische Welt reagierte, liegt an den fünftägigen Bairam-Feiertagen. Mittlerweile fehlt es nicht mehr an Reaktionen. „Wir sind aufgewacht und blicken schockiert auf ein Land der Toleranz, in dem die Demokratie zu Rassismus wurde“, schreibt die staatliche ägyptische Zeitung „al-Akbar“.

Die Schweizer Muslime müssten trotz der Entscheidung zeigen, dass sie mit ihrer Gesellschaft kooperieren, und müssten ihrer Heimat Loyalität versichern, forderte der prominenteste arabische Fernsehscheich, Yussuf Al-Qaradawi. „Muslime können in der Schweiz auch ohne Minarette beten“, sagt er, fügt aber hinzu: „Die Entscheidung führt dazu, dass sich Muslime in der Schweiz als Fremde fühlen in einem Land, das sie nicht haben will.“

Immer wieder weisen die arabischen Medien darauf hin, dass die Schweizer Entscheidung Wasser auf die Mühlen radikaler Muslime ist. „Das ist das schönste Geschenk, das al-Qaida dieses Jahr bekommen hat, da es ihrer Propaganda dienlich ist“, schreibt die überregionale arabische Tageszeitung „al-Quds al-Arabi“.

Kräftige türkische Reaktion

Einige wenige Kommentatoren gaben sich auch selbstkritisch: „Hätten wir nicht ein ähnliches Ergebnis, wenn wir in Ägypten ein Referendum über den Bau von Kirchen abhalten würden“, fragt die unabhängige ägyptische Zeitung „Nahed Masr“?

Kräftig fiel dafür die Reaktion in der Türkei aus. Präsident Abdullah Gül nannte die Entscheidung der Schweiz eine „Schande“, Premier Recep Tayyip Erdo?an nutzte die Gelegenheit einmal mehr für markige Worte: Er kritisierte das Minarettbauverbot als Zeichen einer „zunehmenden rassistischen und faschistischen Haltung in Europa“.

Erdo?an: „In Türkei herrscht Toleranz“

In den türkischen Medien finden sich aber auch andere Stimmen: Es dürfte zwar schwerfallen, unter den 73 Millionen Einwohnern der Türkei eine Handvoll zu finden, die das Minarettverbot in Ordnung finden. Trotzdem gibt es auch Kritik an der Doppelbödigkeit der offiziellen Empörung. Die linksliberale Tageszeitung „Radikal“ betitelte einen Bericht über das Minarettverbot mit der Zeile: „Die Schweiz hat Schlimmes gemacht, aber ...“ Was liberalen Kolumnisten sofort in den Sinn kam, war die Lage der Christen in der Türkei. Da kann Erdo?an noch so sehr beteuern, dass in der Türkei „Toleranz herrscht“ und Moscheen, Kirchen und Synagogen Seite an Seite existieren könnten, wie er das am Dienstag tat.

Historische Kirchen werden in der Türkei heute zwar restauriert und auch nicht mehr einfach in Moscheen umgewandelt. Im Jahr 2003, als sich die Türkei um die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU bemühte, wurde das Baurecht geändert. Seither ist es möglich, in der Türkei auch Kirchen zu bauen. Zumindest laut Gesetz. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Zunächst bedarf es einer Erlaubnis des Gouverneurs. Selbst wenn diese vorliegt, gibt es noch genug andere Hindernisse.

Schikanen bei Kirchenbau

Der Vorsitzende der Protestantischen Freikirche in der Türkei, Ihsan Özbek, sagt, er habe seit 2003 etwa zehn Anträge auf Kirchenbau gestellt, aber bisher sei keiner durchgekommen. In Ankara bekam Özbek zwar die Zustimmung des Gouverneurs, dafür stellte sich der Bürgermeister der Teilgemeinde Cankaya im Herzen Ankaras quer. Sein Argument ist einfach und oft gehört: „Wir haben keinen Platz.“ In Cankaya herrscht Erdo?ans AK-Partei.

AUF EINEN BLICK

In der islamischen Welt mehren sich die Boykottaufrufe gegen die Schweiz. Der türkische Europaminister forderte Muslime auf, ihr Geld von Schweizer Konten abzuziehen. Eine regierungsnahe Zeitung in Syrien forderte einen Warenboykott.

Die Schweiz wird jährlich von rund 250.000 muslimischen Touristen besucht, rund sieben Prozent der Exporte gehen in muslimische Länder. Die Schweizer Wirtschaft hatte vor dem Referendum vor einem Boykottszenario gewarnt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2009)

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