Sven-Regener-Roman: Und gleich noch einmal zurück nach Kreuzberg, ins Jahr 1980!

(C) Galiani Berlin
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Jetzt kommt Ottakring nach Berlin: Im Café Einfall verkehren diesmal auch Österreicher. Und reden so viel wie alle anderen.

Nein, Wien hat keine Berliner Straße. (Es gab eine, von 1939 bis 1945, das NS-Regime hatte einen Teil der Heiligenstädter Straße so umbenannt.) Doch in Berlin gibt es – wie in so vielen deutschen und österreichischen Städten – eine Wiener Straße: Sie ist die Verlängerung der Oranienstraße, der Hauptschlagader des Teils von Kreuzberg, das man (nach dem früheren Postzustellbezirk) SO36 nennt, das gleichnamige Musiklokal, in dem einst die Neue Deutsche Welle regiert hat, ist auch dort. „Oranienstraße, hier lebt der Koran“, sang die NDW-Band Ideal damals. Wird wohl heute noch so sein. Jedenfalls findet man dort unfassbar viele Kebablokale. Und noch viel mehr Touristen. Sie wissen, das ist legendäres Terrain: Abenteuerspielplatz Westberlin-Kreuzberg, alles besetzt, alle trinken Bier aus der Flasche.

Sven Regener, aus Bremen gebürtiger Kreuzberger, hat 2001 in seinem wunderbaren Roman „Herr Lehmann“ das alte Kreuzberg in seiner Abenddämmerung gemalt, als ein Biotop, das sich überlebt hat. Die Geschichte endete mit dem Mauerfall 1989. Da sie so erfolgreich war, ließ Regener zwei Romane folgen, die die Vorgeschichte des Herrn Lehmann (in dem natürlich Regener selbst steckt) erzählen: „Neue Vahr Süd“ spielt noch in Bremen, „Der kleine Bruder“ erzählt die Ankunft in Berlin 1980. Dann kam noch, quasi als Spin-off, „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“, das nach dem Mauerfall spielt, die Verfilmung läuft derzeit im Kino.

Regener ist sicher sehr sympathisch, darum wohl sagt es ihm niemand deutlich: Die Magie und die Dichte von „Herr Lehmann“ hat keines dieser Bücher erreicht. Auch das neue nicht. Herr Lehmann werde „jetzt nicht wie Winnetou zu Tode geritten“, verspricht Regener laut Klappentext. Die Metapher ist schräg, und Lehmann selbst ist wirklich nur eine von vielen Figuren (er darf u. a. Klo putzen sowie Wein liefern und trinken), aber irgendwie fühlt sich der Leser schon ein bisschen matt in dieser Szene.

Zeit der Handlung ist der November 1980, Zentren der Handlung sind das fiktive, aber archetypische Café Einfall, das Regener schon in „Herr Lehmann“ auf der Wiener Straße angesiedelt hat, diverse besetzte Häuser und eine Galerie namens ArschArt, wo Künstler wie P. Immel und H. R. Ledigt am Werk sind. (Irgendwie schön, dass solche Namensspielchen heute nicht mehr en vogue sind.) Natürlich gibt es auch ein kleines, leicht nach echter Gefahr riechendes Polizistenabenteuer in Ostberlin . . .

Es wird ein Bier sein . . .

Aber hauptsächlich wird geredet. Dialogisiert. Geplaudert. Schmäh geführt. Oft auf Berlinerisch: Wen's interessiert, der kann einiges über die Nuancen dieses Dia- bzw. Soziolekts lernen. Und Ausdrücke wie „kalt wie Otter“ oder „Hecht“ (im Sinn von abgestandener Luft) ins Vokabelheft schreiben. Quasi kontrapunktisch will Regener diesmal seine Leser auch ein bisserl Wienerisch lehren, wie er's versteht halt: „So a Eitrige mit am sechzehner Blech, wenn's des vorm Westbahnhof am Würstelstand dort, der heißt Imbiss am Europaplatz, das ist am Westbahnhof“ (zitiert in Originalschreibweise), lässt er einen Künstler „aus dem Gemeindebau in Ottakring“ namens Karl Maria Steyr vulgo Kacki sagen und zwei Seiten später dessen Kollegen Prohaska singen: „Es wird a Wein sein, und mir wern nimmer sein . . .“

Ja, so international war das im guten alten Kreuzberg. Und wenn sie noch nicht gestorben sind, trinken sie noch heute. Meistens Bier. Aus der Flasche natürlich. Ist ja keine Kunst, oder?

Sven Regener, „Wiener Straße“, 296 Seiten, 22,70 Euro (Verlag Galiani, Berlin).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2017)

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