Pflegeskandale

"Es ist den Menschen nicht würdig"

Sarah Nägele
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Österreich braucht dringend Pflegekräfte. Die müssen allerdings mit hohem Zeitdruck und viel Verantwortung bei eher schlechter Bezahlung rechnen. Erfährt Pflege die Anerkennung, die sie verdient? von Sarah Nägele

20 Menschen betreut eine mobile Vollzeitpflegerin in der Steiermark durchschnittlich.

Für das Duschen bleiben zehn Minuten. Zähne putzen, frisieren, anziehen, Frühstück machen, vielleicht einkaufen –  in einer halben bis dreiviertel Stunde muss alles fertig sein. „Es ist ein ewiger Zeitdruck“, sagt Lena (Name von der Redaktion geändert) und schüttelt ungläubig den Kopf. Immer den Piepser im Nacken – wenn er runtergeht, heißt das: Man hat nur noch ein paar Minuten. Jede Viertelstunde, die überzogen wird, muss begründet werden. Und der Druck wird immer höher: Immer schneller, immer kürzere Wegzeiten. So klingt das, wenn Lena von ihrer früheren Stelle erzählt. „Es ist den Menschen nicht würdig“, sagt sie heute.

Lena wird heuer 58 Jahre alt, sieht aber deutlich jünger aus. Vielleicht ist die viele Bewegung in ihrem alten Job daran "schuld". Zum Gespräch ist die schlanke Frau mit dem Motorrad gekommen. Wenn sie über ihre Zeit als angestellte Pflegerin spricht, wirkt sie plötzlich müde. 15 Jahre lang arbeitete sie als Heimhilfe in Wien und Niederösterreich, überwiegend im mobilen Bereich. Dann hat sie sich dazu entschlossen, selbstständige, private Pflegerin zu werden. Sie nennt es die beste Entscheidung ihres Lebens. „Es gibt kein Müssen mehr. Wenn der Patient mal nicht duschen will, dann duscht er halt nicht“, sagt sie: „Ich bin jetzt individuell für jeden da.“

Sarah Nägele

Pfleger werden in der Diskussion übergangen

Im September 2017 erschütterte ein Pflegeskandal im Altenheim Clementinum in Kirchstetten ganz Österreich. Mehrere Pfleger einer Station hatten Patienten dort teils sadistisch gequält und vernachlässigt. Der Fall löste eine mediale Debatte über Transparenz und Kontrolle im Pflegewesen aus. Eine wesentliche Perspektive blieb in der Diskussion allerdings unbeachtet: Die der Pflegekräfte, auch im mobilen Bereich. Mit welchen Problemen kämpfen sie? Wie wird die Qualität ihrer Arbeit gewährleistet?

Lena ist nicht die Einzige mit einem Zeitproblem. Etwa 500 Kilometer entfernt, am anderen Ende des Landes, arbeitet Ina in einem Pflegeheim in Innsbruck. Sie ist diplomierte Krankenschwester in einem Haus mit 128 Bewohnern. Ina ist 31, trägt ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden, eine Brille mit dünnem schwarzem Rahmen und hat ein herzliches Lachen. „In der Ausbildung lernt man so viele interessante Dinge, auch was die Kommunikation mit den Menschen betrifft“, erzählt sie. Aber im Berufsalltag bleibe ihr dafür schlicht keine Zeit: „Es klafft eine riesige Lücke zwischen Ausbildung und Realität.“

Personalschlüssel aus den 90ern

Die Bewohner ihres Heimes beklagten sich im Rahmen eines Feedbacks, dass sie den Satz: „Du musst jetzt mal warten“ ständig hören. Da ist es wieder, das Müssen. Ina wirkt hilflos, wenn sie darüber spricht. Leute einzustellen liegt nicht in ihrer Macht. Die Betreuungsschlüssel sind in jedem Bundesland unterschiedlich. Sie wurden meist schon in den 1990ern erarbeitet. Nur hat sich seitdem Vieles geändert. Die Pflegekonzepte von damals sind überholt, die Beschäftigungsstruktur in den Heimen ist anders, und um Qualität zu sichern, ist der Dokumentationsaufwand viel höher. Zudem nimmt die Zahl an Demenzkranken in den Heimen stetig zu. Dass die alten Betreuungsschlüssel sind nicht mehr zeitgemäß sind, zu diesem Schluss kam eine Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich bereits im Frühjahr 2016. Wirklich geändert hat sich seitdem nichts.

Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit bei dem Thema habe allerdings dazu geführt, dass österreichweit Forderungen nach einer einheitlichen und transparenten Personalberechnungsmethode nach wissenschaftlichen Standards laut wurden. „Auch wenn es noch keine neuen gesetzlichen Vorgaben gibt, zeigt sich, dass unsere Studie wirkt und zu Verbesserungen in den Betrieben führt. Wir werden dranbleiben und weiter Druck machen, bis es auch auf gesetzlicher Ebene Veränderungen zum Wohle der Beschäftigten gibt“ verspricht Johann Kalliauer, Präsident der oberösterreichischen Arbeiterkammer.

Keine gesetzlichen Vorgaben im mobilen Bereich

Die Regelung des Betriebes von Heimen für Personen, die ständige Pflege brauchen, fällt in den Kompetenzbereich der Länder. Das zeigt sich nicht nur in den unterschiedlichen Betreuungsverhältnissen, sondern auch in verschiedenen Vorgaben für die Pfleger. Durch die individuelle Gestaltung ist es schwierig, die Situation der einzelnen Bundesländer miteinander zu vergleichen, was ganz massiv zur Intransparenz beiträgt. „Das Pflegefondsgesetz schreibt ab Jänner 2018 eine Harmonisierung des Dienstleistungsangebotes in Heimen vor, damit der Zweckausschuss an die Länder gewährt wird“, erklärt Helmut Ivansits, Leiter der Abteilung Sozialversicherungen der Arbeiterkammer Wien.

Dort wird beispielsweise die Berücksichtigung sozialer Aspekte vorgeschrieben, oder dass man bei Demenzkranken auf wissenschaftliche Erkenntnisse achten muss – Dinge, die nur durch einheitliche Regelungen gewährleistet werden können. „Es liegt bis jetzt kein Ergebnis vor“, so Ivansits, „eigentlich müsste das jetzt finanzielle Konsequenzen haben.“ Noch undurchsichtiger wird es im Bereich mobiler Dienste: Hier gibt es keine gesetzliche Regelung des Betreuungsverhältnisses. Die Träger entscheiden also selbst, wie viele Klienten ihre Angestellten betreuen.

Nachtdienste weitestgehend ungeregelt

Erschwerend zu dem ohnehin schon knapp bemessenem Personal in den Heimen kommt hinzu, dass Unternehmen sparen, wo sie können und es einen Mangel an diplomiertem Pflegepersonal gibt. Problematisch ist das vor allem nachts. Denn für die Nachtdienste ist der Personaleinsatz weitestgehend ungeregelt. Es ist keine Ausnahme, dass in einem Heim mit 125 Bewohnern nur zwei Personen Nachtdienst haben.

Für Ina kommt es während der Arbeit nicht nur auf die Anzahl der Pfleger, sondern auch auf das Verhältnis von diplomiertem Pflegepersonal und Assistenzen an. Pflegeassistenzen führen Tätigkeiten wie Körperpflege, Duschen und Essen verabreichen aus, handeln dabei aber nach Weisung der diplomierten Krankenschwestern. „Es sollte immer eine diplomierte Krankenschwester auf der Station sein, die einen Arzt kontaktiert, falls ein Patient Medikamente benötigt. Nur mit der Unterschrift eines Arztes dürfen wir Medikamente verabreichen.“ Wenn es einen Engpass gibt, kann es aber sein, dass keine diplomierte Krankenschwester vor Ort ist. „In dem Fall muss eine Pflegeassistenz theoretisch eine Schwester aus einem anderen Heim holen, die sich den Patienten anschaut und gegebenenfalls den Arzt kontaktiert“, erklärt Ina.

Kontrollen teils intransparent

Komplizierte Regelungen wie diese sind keine Ausnahme. „Manchmal arbeiten die Gesetze förmlich gegeneinander“, beklagt die junge Frau. Es gibt sogenannte freiheitseinschränkende Maßnahmen, die im Heimaufenthaltsgesetz definiert sind. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn die Ortsveränderung einer betreuten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, besonders durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. Eine dauerhafte Freiheitseinschränkung muss durch ein ärztliches Gutachten legitimiert werden.

In der Folge des Pflegeskandals von Kirchstetten wurden Pflegeheime verstärkt unangekündigt kontrolliert. Berechtigt dazu ist beispielsweise die Patientenanwaltschaft, die den Umgang mit Patienten überprüft. Dazu gehört das Recht auf persönliche Freiheit der Patienten. „Wir haben zum Beispiel einen schwer dementen Patienten, der einen Bettrahmen hatte“, erklärt Ina. Dieser sollte ihn davon abhalten, nachts aus dem Bett zu fallen. Obwohl ein ärztliches Gutachten vorlag, habe die Patientenanwaltschaft die Stäbe als widrige Maßnahme angesehen: „Mir wurde erklärt, dass der Patient das Recht habe, aus dem Bett zu fallen.“ Das Recht auf Freiheit stehe in diesem Fall über dem Recht auf Gesundheit. Ina wird wütend, wenn sie von dem Vorfall erzählt: „Meine Arbeit ist es, dafür zu sorgen, dass es den Bewohnern gut geht. Ich kann dies unter solchen Bedingungen aber nicht gewährleisten.“

Sarah Nägele

„Die Menschen haben es verdient, dass man sich mit ihnen befasst“

Inas Heim hat eine verhältnismäßig gute Personalstruktur. Trotzdem fühlen sich die Bewohner oft abgefertigt. Ihre Grundbedürfnisse sind gedeckt, sie hungern nicht, sie sind gewaschen – aber die psychische Pflege komme zu kurz: „Die Menschen haben es verdient, dass man sich mit ihnen befasst“, findet sie. Im mobilen Bereich kommt zu dem Zeitproblem erschwerend hinzu, dass die Heimhilfen oft wechseln. Viele ältere Menschen fangen an, eine Ablehnung gegenüber den Betreuern zu entwickeln, erklärt Lena. „Einmal kam ich zu einer Frau, die rief mir schon am Eingang zu ‘bitte, bitte nicht schon wieder eine Neue‘.“

Lena warf daraufhin einen Blick in die Akte der Patientin und zählte über 60 Pflegekräfte im letzten halben Jahr. Das bedeutet über 60 neue Menschen kennen lernen, über 60 Mal erklären was zu tun ist. „Die Frau war inkontinent und musste im Intimbereich gewaschen werden. Das ist eine sehr private Angelegenheit“, sagt Lena mit Nachdruck. Die vielen Betreuungspersonen sind laut Lena durch zwei Gründe erklärbar: Zum einen soll kein nahes Verhältnis zu den Patienten aufgebaut werden und zum anderen wechseln die Arbeitskräfte oft. „Dieser Druck und die schlechte Bezahlung, das hält kein Mensch lange aus“, meint Lena. Außerdem kann die mangelnde Wertschätzung dazu führen, dass die Heimhilfen ihrerseits Ablehnung entwickeln: „Eine ehemalige Kollegin von mir sagt heute ‘ich hasse alte Menschen‘.“

Akademisierung passiert zu spät

Wenn Ina von der Arbeit erzählt, merkt man, dass sie ihren Beruf trotz allen Problemen gerne ausübt. Aber nicht jeder sollte ihn machen, findet sie. „Aus Kostengründen werden viele fachfremde Personen angelernt, die nie zuvor in der Pflege gearbeitet haben“, erzählt sie. „Die sind beim AMS gemeldet und werden dann in ein Umschulungsprogramm gesteckt.“ Die junge Frau hält das für fahrlässig, viele seien gar nicht für die Pflege geeignet. Zusätzlich haben die Krankenschwestern weniger Zeit, weil sie die neuen Pflegekräfte einlernen müssen. Mit dieser Kritik steht sie nicht alleine da. Hendrik Trinker ist Pflegedienstleitung in einem steirischen Heim und damit für die Verwaltung zuständig. Er stellt Pfleger ein. „Einmal saß eine 50-jährige diplomierte Architektin vor mir, die jetzt zur Pflegeassistenz umgelernt werden sollte. Da muss man dann schon schmunzeln beim Bewerbungsgespräch.“

Trinker findet, dass der Pflegebereich nicht zukunftsfähig aufgestellt ist.  „In der Theorie gibt es viele Lösungsvorschläge, die in der Praxis wenig bis gar nicht ankommen.“ Die Akademisierung in der Pflege ist so ein Punkt. International schon Standard, steckt sie in Österreich und Deutschland noch in den Kinderschuhen. Durch das Studium sollen wissenschaftliche Erkenntnisse besser umgesetzt werden. Trinker findet aber, dass die Akademisierung zu spät passiert und in eine falsche Richtung geht: „Akademisierung bedeutet, dass weniger Leute den Beruf lernen.“ Die Akademiker ersetzen dann die diplomierten Pflegekräfte, die derzeit die Hauptkräfte in der Pflege sind. Aber wenn weniger Leute studieren, als eine Ausbildung zu machen, wer übernimmt dann die Arbeit?

Zeitdruck, geringe Wertschätzung und schlechte Bezahlung

Trinker erklärt auch gleich, wie er zu der Vermutung kommt: „Wir haben inzwischen einen sehr unattraktiven Berufszweig.“ Er nennt hohe Verantwortung, Zeitdruck, dabei aber geringe Wertschätzung und schlechte Bezahlung. Der Einstiegsgehalt für eine Heimhilfe liegt laut AMS zwischen 1690 und 1880 € brutto, der einer Pflegeassistenz etwa im selben Bereich. Eine diplomierte Pflegekraft kann mit einem Einstiegsgehalt zwischen 2060 und 2400 € brutto rechnen. Die meisten Pflegekräfte machen den Beruf aus Liebe zum Menschen, ist Trinker überzeugt. Problematisch sei, dass die Geschäftsführer der Pflegeheime nicht aus sozialen Bereich kommen, sondern betriebswirtschaftlich denken: „Wenn man da erfolgreich etwas verändern will, müssen die Zahlen stimmen.“

Könnte man mit Fortbildungen oder Supervision die Situation für Pflegekräfte intern verbessern? „Ich war daran sehr interessiert, aber tatsächlich kamen solche Angebote nie zustande“, erzählt Lena und nimmt ein Schluck von ihrem Kaffee. „Viele Kollegen hatten Angst, dass vertrauliche Dinge an die Chefs weitererzählt werden.“ Im Café ist es laut und ständig laufen Leute vorbei. Lena hält plötzlich erschrocken inne und fragt, ob sie zu laut gesprochen habe. Das Misstrauen ist noch immer da, obwohl sie schon längst für kein Unternehmen mehr arbeitet.

Sarah Nägele

Die Resignation der Pfleger

Trinker sucht oft das Gespräch mit den Pflegern. „Aber ich merke schon, dass da eine Distanz ist“, gibt er zu. Ina zeichnet ein ähnliches Bild von der Situation: „Pflegekräfte tun oft so, als ob man kein gutes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten haben könne.“ Die meisten hätten sich mit ihrer Situation abgefunden. „Manche Kollegen sagen, dass sie jetzt auch mal auf die Straße gehen und streiken“ meint sie. „Aber in Wirklichkeit würden sie das nie tun. Wer würde sich dann um die Heimbewohner kümmern?“

Was sie sich wünscht? Ina überlegt kurz: „Mehr Wertschätzung für eine qualitative Pflege.“ Und der Pflegepersonalschlüssel müsste dringend überholt werden. „Ich kann eine Ganzkörperwäsche vielleicht in zwölf Minuten durchführen. Wie sich der Betroffene dann fühlt, ist eine andere Geschichte.“ Lena liebt ihren Beruf heute wieder. Sie sagt:

»Ich lerne von diesen Menschen. Wie sie ihr Leben gelebt haben, wann sie gelebt haben, wie sie die Nazi-Zeit erlebt haben, was sie als Kinder gemacht haben. Ich lerne Leben kennen, Meinungen, Erfahrungen, und Geschichten. Wie sie die beiden Weltkriege erlebt haben, das sind die letzten noch lebenden Zeitzeugen, auch im Bezug darauf, wie sich die Politik entwickelt. Viele sagen „Bitte, bitte nicht. Ich will nie wieder einen Krieg erleben.“ Das ist beeindruckend. Mit denen hat glaube ich nie jemand darüber geredet.«

Lena

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