Seoul: Roter Mohn und Hochhausschluchten

Klingt weiter hergeholt, als es ist: Rad ausborgen in Seoul.
Klingt weiter hergeholt, als es ist: Rad ausborgen in Seoul. (c) Markus Kirchgessner
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Bei einer Radfahrt am Han-Fluss kann man in Seoul Superlative der Moderne, Wolkenkratzer und Brückenarchitektur bestaunen. Aber ebenso Traditionelles wie Tempel, Buddhastatuen und bunte Natur.

Wenn irgendwann der Bedarf an stylischen Sonnenbrillen, bunten Plateausandalen und neuestem elektronischem Schnickschnack gedeckt ist, wenn einem der letzte Abend mit viel Karaoke und Reisschnaps noch in den Knochen hängt und sich sogar ein leichter Überdruss an fröhlich flanierenden Menschenmengen einstellt, dann wird es Zeit für den Fluss.

Mit der U-Bahn 5 geht es zur Station Yeouinaru. Ein Blumenbogen in Form eines halbversunkenen Herzens rahmt den Blick auf das Wasser. 200 Meter weiter liegt eine der vielen Fahrradstationen. Das Ausleihen ist einfach, Räder gibt es in „Normal“ und „Hybrid“, aber anders als früher muss man sie abends genau an derselben Ausgangsstation wieder abliefern.

Sorgsam ausgeklügelt

In den letzten 25 Jahren haben die Stadtväter der Zehn-Millionen-Metropole einiges getan, um die Region am Han-Fluss attraktiver zu gestalten. Und so führt heute am Südufer auf 25 Kilometern Länge ein zweispuriger Fahrradweg entlang. Fast flach verläuft er, alle paar Hundert Meter findet man einen Trinkbrunnen, es gibt Luftpumpstationen und noch vor der harmlosesten Kurve warnen Schilder vor Unachtsamkeit.

Doch nicht nur der Weg, auch die Natur dazu wurde ganz neu angelegt. Abwechselnd blühen roter Mohn und weißer Klee, man fährt durch Waldstreifen mit Trauerbirken, Akazien und Taubenhäusern auf Stelzen, dann wieder ziehen sich grüne Schilfgürtel zum Wasser hin. Zur Rechten brandet oben der Verkehr, zur Linken zieht der Fluss dahin, bis zu einem Kilometer breit. Erstaunlich wenig Schiffe und Boote sind unterwegs – Seoul arbeitet, vergnügen kann man sich am Wochenende. Am anderen Ufer aber reißt die grau-weiße Kette der Hochhäuser nicht ab: Häuser wie Zylinder, wie überdimensionierte Bleistifte, wie riesige Weinkartons – irgendwo müssen zehn Millionen Menschen schließlich wohnen.

Es ist ein entspanntes Radfahren. Während der nächsten Stunden quert man Seoul in einer Art Wasser- und Grüngürtel von West nach Ost, und das Bild ändert sich nicht grundsätzlich. Man ist der Stadt nah, ist aus ihr draußen und doch mittendrin – ein interessantes Paradox.

Unter der Woche sind nicht allzu viele Radfahrer unterwegs. Doch die, die entgegenkommen, sind ausstaffiert, als nähmen sie an einem 100-km-Querfeldeinrennen teil: Eng anliegende, neueste Funktionskleidung in Schwarz, Handschuhe, verspiegelte Sonnenbrille, Mütze und Tuch – kein Fetzchen Haut ist auszumachen. Bloß kein Sonnenstrahl auf meine kostbare Blässe, heißt die Devise. Niemand in Seoul will einem wettergegerbten Bauern ähneln.

Hoch hinaus

Einzelne Landmarken strukturieren die Strecke. Lang fährt man auf City 63 zu, den goldschimmernden, 250 Meter hohen Wolkenkratzer, der anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1988 gebaut wurde und damals der höchste seiner Art in Seoul war. Längst sind andere an ihm vorbei in den Himmel gezogen. Der Lotte Tower wird, wenn er demnächst fertig ist, mit seinen 555 Metern mehr als doppelt so hoch sein.

An der Banpo-Brücke sprühen 380 Düsen auf 1140 Metern Länge Wasserkaskaden in den Fluss, bunte Lichter tanzen darauf und verwandeln die Kaskaden in einen plätschernden Regenbogen. Abends passiert das, wie eine Schautafel verrät. Jetzt ist sie nur eine unter den 26 Brücken, die den Norden Seouls mit dem Süden verbinden. Eine der elf, die man im Laufe des Tages passiert – für Freunde von Brückenarchitektur ist die Tour wie ein vorüberziehendes technisches Bilderbuch. Vorbei an Campingplätzen, Rosenbeeten und kleinen Kiosken geht es nach Osten. An den wiederkehrenden Trimm-dich-Stationen machen durchtrainierte Großmütter Dehn- und Streckübungen. Gruppen von Freunden holen den Picknickkorb heraus und teilen ein paar Gimpae, Reisrollen, die mit Huhn, Thunfisch und Gemüse gefüllt sind.

Quirlig und bedacht

Dann kommt zur Rechten Gangnam in Sicht, das hippste und luxuriöseste Geschäftsviertel, das vor vier Jahren durch das Video „Gangnam Style“ des Rappers Psy weltweit Furore machte. Zwischen Betonschleifen und staksigen Trägern geht es hinauf auf Stadthöhe, zu einem Abstecher ins quirlige Leben, weg vom beschaulichen Fluss. Radwege gibt es jetzt keine mehr, aber die Bürgersteige sind breit genug.

Gegenüber von COEX, dem gigantischen Kongress- und Ausstellungzentrum mit der zweitgrößten Shopping-Mall Asiens, liegt der Bongeun-Tempel. Vorbei an grimmig blickenden, farbenprächtigen Holzwächtern tritt man durch das Tor in eine andere Welt. Ein Himmel aus bunten Ballons spannt sich dahinter, jeder aus Spenden finanziert. Irgendwo leiert ein Priester Gebete, Gläubige sitzen tief versunken vor Buddhastatuen, ein Chor übt neue Lieder ein.

Das Rauschen der Stadt

Wohnwaben und gläserne Bürocontainer umschließen den Park mit seinen Eiben, Ahornbäumen und Bambusstreifen. Spatzen spielen in krumm gewachsenen Kiefern, nur noch von fern ist das Rauschen der Stadt zu vernehmen. Noch einmal verdichten sich die Kontraste, an denen Seoul so reich ist: Der individuellen Expressivität der Hochhäuser, von denen jedes „Ich, ich, ich“ schreit, steht der Gestaltungswille der Tradition gegenüber. Eine in Jahrhunderten erarbeitete Stilsicherheit und Einheitlichkeit in Form und Materialien – bemalte Balken, geschwungene Ziegeldächer, Holzschnitzereien – behauptet sich gegen schräge Spiegelebenen, verspielte Säulen und ein Fachwerkhäuschen mit Schindeldach, das die krönende Spitze eines Wolkenkratzers bildet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2018)

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