Mit einem Kribbeln fängt es an

Vor 25 Jahren spürte Jörg Leiter erstmals ein Zucken in den Beinen, heute ist er auf den Rollstuhl angewiesen.
Vor 25 Jahren spürte Jörg Leiter erstmals ein Zucken in den Beinen, heute ist er auf den Rollstuhl angewiesen.(c) Clemens Fabry
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Ein Name, mehr als 500 Ursachen: Etwa zwei Prozent der Österreicher leiden an Polyneuropathie. Die Nervenerkrankung beginnt schleichend, oft als Folge von Diabetes oder einer Chemotherapie. In rund 30 Prozent bleibt ihr Auslöser unklar.

„Bei mehr als 500 möglichen Ursachen fing die Suche an, am Ende hörte ich von den Ärzten: Es gibt 85 denkbare Gründe für Ihre Polyneuropathie, den einen werden wir nicht finden. Stellen Sie sich aber darauf ein: Sie werden im Rollstuhl sitzen.“ Jörg Leiter lacht, während er seine schmerzvolle Geschichte erzählt. Dreimal pro Tag muss er starke Tabletten nehmen, um das Brennen in den Beinen und dem unteren Rücken ertragen zu können. Hie und da spürt er ein Ziehen in den Händen, eine Zeit lang konnte er den rechten Arm nicht mehr bewegen. „Alles kein Grund, den Humor zu verlieren“, findet der 58-Jährige. „Eher Grund weiterzukämpfen.“

Vor 25 Jahren spürte der gebürtige Wiener erstmals ein Zucken in den Beinen, die Füße fühlten sich manchmal taub an, sein Gang wurde unsicher. In der Nacht konnte er den Druck seiner Bettdecke auf der Haut nicht mehr ertragen. „Alle halben Stunden lief ich hinaus, rieb mir die brennenden Beine mit Schnee ein“, schildert Leiter, der damals als Masseur und Shiatsu-Trainer in Osttirol tätig war. Doch es half nichts. Erst fünf Jahre später sollten die Mediziner herausfinden, woran Leiter bis heute leidet: Polyneuropathie. „Ein Wort, mit dem ich nichts anfangen konnte“, räumt er ein.

Damit ist er nicht allein. „Die meisten Patienten kommen mit der Diagnose Polyneuropathie und angsterfüllten Blicken zu mir – murmeln etwas von einem Rollstuhl, in dem sie bald Platz nehmen würden“, sagt Wolfgang Grisold vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie. „Die Realität sieht anders aus: Die Erkrankung ist unangenehm, kann Missempfindungen hervorrufen, aber: Ausgeprägte Lähmungen treten sehr selten auf.“ Konkret: „Der Rollstuhl ist die Ausnahme, nicht die Regel.“

Lästige Begleiterscheinung

Das Wort Polyneuropathie stammt aus dem Griechischen und bedeutet, dass „viele Nerven erkrankt“ sind. Gemeint sind die peripheren Nervenbahnen, folglich jener Bereich des Nervensystems, der sich außerhalb des Rückenmarks und des Gehirns befindet. „Die meisten Polyneuropathien sind längenabhängig, führen also als Erstes dort zu Symptomen, wo die Nervenenden am weitesten weg vom Rückenmark sind“, so Grisold, „in den Füßen und den Beinen.“

Häufige Anzeichen für ein beginnendes Leiden sind gefühllose oder kribbelnde Zehen, ziehende oder brennende Waden, ein elektrisierendes Zucken, ein vermindertes Schmerzempfinden, Unsicherheiten beim Gehen auf unebenem Boden oder nachts sowie Probleme beim Halten der Balance.

„Meistens ist es eine mild verlaufende, eher lästige Erkrankung“, meint Wolfgang Löscher, Leitender Oberarzt an der Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie. Doch eine nicht zu unterschätzende. Denn: „Es gibt mehr als 500 mögliche Ursachen für Polyneuropathie – und entsprechend viele Ausprägungen der Erkrankung.“ Am häufigsten tritt sie als Folge von Diabetes oder chronischem Alkoholmissbrauch auf, viele Chemotherapeutika können ebenfalls Auslöser sein. Weitere mögliche Ursachen: Drogenkonsum, Schilddrüsen-, Nieren- oder Lebererkrankungen, ein Vitamin-B12-Mangel oder Rheuma. „Auch vererbte Formen sind nachgewiesen: Entweder sie brechen in der Kindheit oder Jugend auf oder ab dem 50. Lebensjahr“, sagt Neurologe Grisold. „In Afrika und Asien kommt das Leiden indes häufig durch HIV oder Lepra verursacht vor.“

Bei etwa 30 Prozent der Fälle wird die Ursache nie gefunden. Die Medizin spricht von der ungeklärten, kryptogenen Polyneuropathie. „Sehr selten sind entzündliche Neuropathien, die im Fall des Guillain-Barre-Syndroms lebensbedrohlich sein können, oder chronisch-entzündliche, die eine ständige Behandlung bedürfen“, sagt Grisold.

Ameisenbisse im Bein

Heidrun K. bekam zu ihrem 65. Geburtstag erste Beschwerden. „Ich kriegte Blasen an den Füßen, weil die Schuhe gedrückt haben – und spürte es nicht“, erzählt sie. Hie und da habe sie sich an Kanten gestoßen, ohne es zu fühlen. Erst Blutergüsse machten sie darauf aufmerksam. Merkbarer hingegen war und ist die mangelnde Koordination: „Ich gehe stets mit Gehstock, so fühle ich mich sicherer“, schildert die frühere Lehrerin ihre „Wald-und-Wiesen-Polyneuropathie“. Wie Leiter setzt auch sie auf den Humor: „Mit 71 flattern die Schmetterlinge nicht mehr im Bauch, dafür zwicken dir ständig Ameisen in die Waden.“

Wie viele Personen von der Vielnervenkrankheit betroffen sind, lässt sich nur schätzen. „Es gibt kaum langzeitliche Studien, für Österreich kenne ich gar keine“, sagt Löscher. „In Innsbruck verzeichnen wir pro Jahr rund 300 Neuerkrankungen.“ Generell gilt: Je älter, desto eher. „Zwischen 50 und 60 Jahren gibt es eine erste Welle, zwischen 70 und 80 Jahren verdoppeln sich die Zahlen“, führt er aus. „Eine aktuelle holländische Studie geht davon aus, dass eine von hundert Personen betroffen ist – in Österreich dürften wir bei etwas mehr als zwei pro hundert liegen.“

Besteht der Verdacht auf Polyneuropathie, lautet der nächste Schritt: klinische Untersuchung. „Reflexe, Gefühls- und Temperaturempfinden werden wortwörtlich abgeklopft“, erläutert Löscher. Beliebteste Variante: Eine vibrierende Stimmgabel wird an Zehen oder Knöchel aufgesetzt, um zu testen, ob die Vibration wahrgenommen wird. Auch der Gang wird überprüft: „Typisch für Betroffene ist, dass sie – vor allem im Dunkeln – unsicher gehen, da sie den Kontakt zwischen Fußsohle und Boden vermindert wahrnehmen.“

„Wichtig ist: Nicht alles, was kribbelt, ist eine Polyneuropathie“, betont Grisold. „Manchmal ist ein Bandscheibenvorfall Grund für ein dumpfes Gefühl in den Zehen, manchmal kommt es zu einer Läsion von einzelnen Nerven.“ Ein Beispiel: Die Beine werden überkreuzt, auf einen Nerv wird Druck ausgeübt und das Bein „schläft ein“ oder beginnt zu kribbeln.

Präzision laute das Gebot der Stunde, „doch ich warne vor übertriebener Ursachenforschung“, mahnt der Mediziner. Denn: „Lassen die Standardtests konkrete Schlüsse zu, sollte man es dabei belassen; CTs, Nerven- oder Hauptbiopsien bringen meist keine weiteren Erkenntnisse, sondern verunsichern die Patienten mehr, als sie ihnen nutzen“, sagt Grisold, der heuer beim Kongress der Neuromuskulären Erkrankungen in Wien (6.–10. Juni) über Polyneuropathien referieren wird. „Besser ist es, so früh als möglich mit der Symptombehandlung zu beginnen.“

In den meisten Fällen bedeutet das: besseres Schuhwerk und Gehhilfen sowie eine regelmäßige Physiotherapie. Auch eine Elektrotherapie kann Abhilfe schaffen, Gleiches gilt für Wärme- oder Kälteanwendungen. Da Teppiche rasch zur Stolperfalle mutieren können, sollte ihr Dasein überdacht werden. Vermieden werden sollten außerdem Glastische und allzu glatte Bodenbeläge.

Medikamente und Motivation

Bei der Diagnose einer schmerzhaften diabetisch bedingten Polyneuropathie können eine mehrwöchige Infusionsserie von Liponsäure, die Einnahme von Antikonvulsiva oder spezielle Antidepressiva Abhilfe der Symptome schaffen. In Härtefällen müssen Opiate verschrieben werden. Nicht selten werden von den Betroffenen zusätzlich naturheilkundliche Pfade beschritten: Akupunktur, Akupressur, Homöopathie oder der Besuch in Heilstollen werden in Online-Foren oder Ratgebern gern genannt. Aber: „Ohne schulmedizinische Empfehlung“, wie Grisold betont.

„Wichtig ist, weiterhin rauszugehen“, lautet der Rat von Franz Karl, der sich selbst zu den „glücklich Davongekommenen“ zählt. Gemeint ist: „Ich bin völlig schmerzfrei.“ Der frühere Wiener Kommunalpolitiker und nunmehrige Vizepräsident des Seniorenrates setzt auf Balance- und Muskeltraining. „Ich kann 50 Meter wackelig gehen, stehen kann ich ohne Hilfe aber nicht“, schildert der 75-Jährige, der mittlerweile „aus Bequemlichkeit“ im Rollstuhl Platz genommen hat. „Ich müsste nicht, aber es ist leichter für mich“, sagt er.

Keine Wahl hat Leiter. Der Präsident des 2014 gegründeten Selbsthilfevereins für Polyneuropathie-Patienten sitzt seit acht Jahren im „fahrbaren Untersatz“. „Es ging unheimlich schnell“, erinnert er sich. Von Ausflügen hält ihn dieser Umstand aber nicht ab. Gemeinsam mit den rund 150 Mitgliedern des Vereins geht es in den Prater, per Schiff nach Bratislava, per Zug nach Salzburg. „Früher bin ich mit dem Rad 100 Kilometer am Tag gefahren, heute eben mit dem Rollstuhl“, grinst der Mann mit den grau-melierten Haaren. Und wiederholt sein Credo: „Aufgeben tut man einen Brief, sonst gar nichts.“

Lexikon

Polyneuropathie bedeutet, dass „viele (periphere) Nerven erkrankt“ sind. Häufig beginnt die Erkrankung mit einem kribbelnden oder tauben Gefühl in den Zehen („sockenförmig begrenzt“), gefolgt von Brennen oder Ziehen. Die Krankheit schreitet in der Regel symmetrisch fort. Hitze- und Kälteempfinden können gestört sein. Starke Lähmungen sind selten.

Ursachen. Die Medizin listet mehr als 500 mögliche Auslöser auf, zu den häufigsten Ursachen zählen Diabetes und Alkoholmissbrauch, auch infolge von Chemotherapien kann die Krankheit auftreten. In rund 30 Prozent der Fälle wird keine eindeutige Ursache gefunden.

Langzeitliche Studien liegen für Österreich nicht vor, die Zahl der Betroffenen kann daher nur geschätzt werden. Derzeit belaufen sich diese Schätzungen auf etwa zwei bis zweieinhalb Prozent der Bevölkerung.

Die Österreichische Selbsthilfe Polyneuropathie wurde 2014 gegründet. Vereinstreffen finden u. a. jeden zweiten Montag im Monat im Wiener Kulturhaus im Amerlinghaus statt, auch in Salzburg wurde eine Gruppe ins Leben gerufen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2018)

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