Guido auf der Wohlstandswelle

Die Diskussion über soziale Gerechtigkeit offenbart deutlich das Grundproblem der deutschen Regierung.

Sehen so Traumpartner aus? In der schwarz-gelben Koalition fliegen die Fetzen – und das nicht erst seit den jüngsten kritischen Äußerungen von FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle über Hartz-IV-Empfänger. Seine Warnungen vor „anstrengungslosem Wohlstand“ und „spätrömischer Dekadenz“ haben eine grundsätzliche Debatte über den Sozialstaat ausgelöst und ihm nicht nur vom Koalitionspartner Union, sondern auch aus den eigenen Reihen heftige Kritik eingebracht.

Die Debatte ist der vorläufig letzte Höhepunkt in einer Serie von Streitigkeiten, die inhaltlich von der Steuer- über die Atom- bis zur Gesundheitspolitik reichen; auch atmosphärisch lässt die angebliche Wunschkoalition zu wünschen übrig. In rasantem Tempo haben einander die Partner das Jawort gegeben, ohne genügend Zeit auf die Details des Ehe-, sprich Koalitionsvertrags, zu verwenden. Der ist in weiten Teilen so schwammig formuliert, dass der Interpretationsspielraum und damit das Konfliktpotenzial sehr groß ist.

Jetzt ändert sich der Ton in der Dauerbeziehungskrise: Westerwelle scheint überrascht vom Tempo, mit dem die FDP und er selbst an Zustimmung in der deutschen Bevölkerung verlieren. Obwohl der Außenminister traditionell hohe Popularität genießt und Westerwelle sich auf dem internationalen Parkett bisher keine gröberen Schnitzer geleistet hat, geht es steil bergab. Das liegt unter anderem daran, dass er die Innenpolitik bisher vernachlässigt hat – mit Ausnahme der mantraartig wiederholten Forderung nach Steuersenkungen, bei denen die Union jedoch bremst, weil kein Geld da ist. Außerdem ist die FDP allzu sehr auf ihren Chef zugeschnitten, andere starke Persönlichkeiten fehlen den Liberalen derzeit.


Westerwelle hat sich in seinem Frust über den bisherigen Verlauf der schwarz-gelben „Ehe“ offensichtlich für eine neue, aggressive Strategie entschieden, die auch den Koalitionspartner nicht schont. Er will, wie er im Zusammenhang mit Hartz IV erklärte, „die Wahrheit sagen“ statt „um den heißen Brei herumzureden“. Mehr als um eine sachliche Diskussion über Sozialhilfe geht es Westerwelle aber wohl darum, die FDP wieder aus ihrem Tief zu holen, koste es, was es wolle. Es ist freilich zu bezweifeln, dass der FDP-Chef mit seinem Auftreten als Politrowdy wirklich eine Trendwende einleiten wird.

Westerwelles Aussagen zur Sozialhilfe wirken gerade nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, das hier Defizite feststellte, kontraproduktiv. Die Richter in Karlsruhe haben mehr Transparenz bei der Berechnung der Regelsätze gefordert; die Neuordnung, die die Regierung nun vornehmen muss, läuft tendenziell auf eine Erhöhung hinaus. Was Westerwelle tut, wirkt da wie Antipolitik. Hat er noch nicht realisiert, dass er nicht mehr in der Opposition sitzt?

Die Diskussion über soziale Gerechtigkeit offenbart deutlich das Grundproblem der Regierung: Sie hat von Anfang an keine übergeordnete Botschaft vermittelt, keine klare Richtung vorgegeben, die sie einschlagen will. Keine Fortsetzung von Schwarz-Rot – das war klar, aber was dann? Angeblich kein sozialer Kälteschock, wie von der Opposition befürchtet – oder darf's jetzt doch etwas kühler werden?


Aufbruchsstimmung war von Anfang an nicht zu verspüren. Auch ursprüngliche Anhänger von Schwarz-Gelb sind mittlerweile enttäuscht. Wofür die seit Oktober amtierende „neue“ Regierung steht, ist unklar. So haftet der FDP in erster Linie der Vorwurf an, reine Klientelpolitik zu betreiben – besonders seit die Millionenspende aus der Hotelbranche bekannt wurde –, die CDU-Kanzlerin wiederum wird als führungsschwach kritisiert.

Auch jetzt erschallt reflexartig der Ruf, Angela Merkel solle in der Hartz-IV-Debatte „ein Machtwort“ sprechen. Aber die Kanzlerin ficht dies nicht an. Sie ist mit ihrer Taktik des Abwartens bisher gut gefahren. Vor den wichtigen Wahlen in Nordrhein-Westfalen Anfang Mai herrscht ohnehin Stillstand. Die Bundespolitik starrt angesichts dieses Termins wie das Kaninchen auf die Schlange.

Merkel kann von der Schwäche der FDP sogar profitieren. Wähler, die von den Liberalen enttäuscht sind, werden, so das Kalkül, zur Union zurückkehren. In Nordrhein-Westfalen flirtet die Union bereits unverblümt mit den Grünen, für den Fall, dass dort Schwarz-Gelb abgewählt wird. Geschickt hat die Bundeskanzlerin ein Machtdreieck aufgebaut, das auch die Grünen mit einbezieht. Wenn's in der Ehe allzu sehr kriselt, kann man ja notfalls auch den Partner wechseln. Auch im Bund ist nichts ewig.


eva.male@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Westerwelle: "Arbeiter sind Deppen der Nation"

FDP-Chef Westerwelle bekräftigt seinen Vorwurf, die Sozialstaatsdebatte in Deutschland sei "sozialistisch" geprägt und erntet Kritik aus der eigenen Partei. Parteifreunde forden ihn zur Machtteilung auf.
Nach Hartz-IV-Kritik: "Westerwelle zündelt wie Kaiser Nero"
Außenpolitik

Nach Hartz-IV-Kritik: "Westerwelle zündelt wie Kaiser Nero"

Der deutsche FDP-Chef kritisiert die Diskussion über höhere Sätze beim Arbeitslosengeld als "sozialistisch" und warnt vor "anstrengungslosem Wohlstand". Dafür hagelt es jetzt Kritik.
Außenpolitik

SPD-Chef Gabriel: "Frau Merkel ist zu feige"

Der deutsche Oppositionsführer Gabriel fordert die Kanzlerin auf, eine Regierungserklärung zur Debatte um Hartz IV abzugeben. FDP-Chef Westerwelle sieht "enorme Zustimmung" zu seiner Kritik am Sozialstaat.
Außenpolitik

Westerwelle: "Arbeiter sind Deppen der Nation"

FDP-Chef Westerwelle bekräftigt seinen Vorwurf, die Sozialstaatsdebatte in Deutschland sei "sozialistisch" geprägt und erntet Kritik aus der eigenen Partei. Parteifreunde forden ihn zur Machtteilung auf.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.